Die Provokation ist, dass es keine gibt
Von Michael MeynsSex, Drogen, Gewalt, Exzess. Diese Begriffe kommen einem zunächst in den Sinn, wenn man an die Filme des aus Argentinien stammenden, in Frankreich lebenden und arbeitenden Gaspar Noé denkt. Schließlich war bisher jeder seiner Filme, von „Irréversible“ über „Enter The Void“ bis hin zum pornografischen 3D-Film „Love“ auf seine Weise zumindest ein kleiner Skandal. Aber das einzig Skandalöse an Noés neuestem Werk ist, dass es keine Provokation gibt – stattdessen entpuppt sich „Vortex“ quasi als Adaption eines Satzes aus seinem vorherigen Film „Climax“, wo an einer Stelle gesagt wird: „Tod ist eine außerordentliche Erfahrung.“ In den zweieinhalb Stunden von „Vortex“ beobachtet Noé zwei sehr alte Menschen dabei, wie sie die letzten Wochen vor ihrem Tod verbringen. Das hört sich schlicht und vielleicht sogar ein wenig banal an, wird unter der diesmal vermeintlich zurückhaltenden Regie Noés jedoch zu einem bemerkenswerten und vor allem bemerkenswert berührenden filmischen Erlebnis.
Ein altes Paar lebt gemeinsam in einem engen Pariser Apartment, an dem vor allem die verschachtelten Flure auffallen. Der Mann (Italiens Horror-Großmeister Dario Argento), der immer noch als Filmjournalist arbeitet, umgibt sich mit unzähligen Kinoplakaten, hat eine Affäre und schreibt an einem Buch über Filme und Träume. Die Frau (Françoise Lebrun) war früher Therapeutin, irrlichtert jedoch inzwischen zunehmend durch das Leben. Sie leidet an Alzheimer und vergisst ständig, wo sie ist und was sie gerade tun wollte. Sie mögen zusammen gelabt haben, doch sterben werden sie beide allein…
Die letzten Wochen und Tage...
Drogen gelten gemeinhin als Mittel zum euphorischen Rausch, als Hemmungen lösender Weg zur Ekstase. Doch bei Gaspar Noé waren sie schon immer auch und vor allem ein Weg zur Erkenntnis und zur Beschäftigung mit dem ultimativen Rätsel des Menschsein: dem Tod. Gerade in „Enter The Void“ sieht die Hauptfigur durch den Rausch mit DMT und anderen Halluzinogenen ihren Tod voraus – sie durchlebt immer wieder den Unfalltod der Eltern, erlebt bald auch die eigene Geburt und akzeptiert so den Kreislauf des Lebens. Auch in „Climax“ artet der anfangs enthusiastische LSD-Trip schnell in tiefste Abgründe aus, die – je nach Lesart – zum womöglich massenhaften Sterben der Tänzer führen.
So sehr Noés Filme also stets von Rauschzuständen erzählten, so sehr schwang dabei auch stets die Beschäftigung mit dem Tod mit – ein Thema, das mit dem Altern des Regisseurs nun immer deutlicher zu Tage tritt. Noé ist inzwischen mit seiner Regie-Kollegin und Mitarbeiterin Lucile Hadžihalilović verheiratet, seine Mutter starb vor einigen Jahren in seinen Armen, er selbst entkam vor zwei Jahren nach einer Gehirnblutung nur knapp dem Tod. Er wird ruhiger und weiser – aber deshalb nicht weniger radikal. Das zeigt sich in „Vortex“ vor allem durch eine ebenso einfache wie brillante und inhaltlich konsequente stilistische Entscheidung:
In einer der ersten Einstellungen sieht man das Paar auf dem Bett liegen, er links, sie rechts, die ganze Breite der Leinwand ausfüllend. Kaum merklich beginnt nun ein Strich, das Bild zu teilen und so zwei Fenster zu formen, die für den Rest des 135 Minuten langen Films die beiden Figuren trennen werden. Auf der einen Seite beobachtet man den Mann, auf der anderen die Frau – man kann sich also entscheiden, ob man ihm oder ihr bei alltäglichen, oft auch tatsächlich banalen Tätigkeiten zuschaut. Manchmal begegnen sich die beiden in den Fluren ihrer Wohnung, sind für einen kurzen Moment jeweils in beiden Bildfenstern zu sehen. Doch diese Momente sind auch schnell wieder vorbei. Gelegentlich schaut der Sohn des Paares (Alex Lutz) vorbei, doch gerade das Leben der Mutter ist von zunehmender Einsamkeit geprägt.
Der Film, an den „Vortex“ am ehesten erinnert, ist wohl Michael Hanekes „Amour“, der ebenfalls ein Paar in einer Pariser Wohnung zeigt, das sich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert sieht. Erstaunlich ist das, weil Noé bislang oft als Regisseur von Filmen abgetan wurde, die betont provokant waren und mit Gimmicks arbeiteten, vom Samenerguss in 3D in „Love“ bis zum Rückwärtserzählen der Vergewaltigung-und-Rache-Erzählung in „Irréversible“. Ja, das waren extreme Filme, die oft auch in einem Maße plakativ waren, die es Kritikern allzu einfach gemacht haben, Noé als oberflächlichen Regisseur abzutun.
Vielleicht bewirkt „Vortex“ nun ein Umdenken, vielleicht ist dieses melancholische Drama um das Sterben der Beginn des Alterswerk des inzwischen 57-jährigen Regisseurs. Was allerdings keineswegs bedeutet, dass er langweiliger oder gar konventionell wird, im Gegenteil. In seiner radikalen Form schließt „Vortex“ nahtlos an frühere, offensichtlicher radikale Filme Noés an, thematisiert dabei nur eben noch viel deutlicher das Vergehen der Zeit und die Unausweichlichkeit des Todes.
Fazit: Auf den ersten Blick betritt Gaspar Noé mit „Vortex“ neue Wege, doch das streng komponierte Drama über zwei alte, sterbende Menschen reiht sich in Wahrheit nahtlos in das Werk eines der innovativsten, ungewöhnlichsten Regisseure unserer Zeit ein.
Wir haben „Vortex“ auf dem Filmfestival in Cannes gesehen, wo er auch seine Weltpremiere gefeiert hat.