So kann Pädagogik auch funktionieren
Von Michael MeynsBevor die Corona-Pandemie alle anderen Themen von der Tagesordnung wischte, wurde über kaum etwas in der deutschen Öffentlichkeit so intensiv diskutiert wie Integration. Nicht erst seit der Flüchtlingswelle 2015/16 war die Frage, wie Menschen aus anderen Kulturkreisen in die deutsche Gesellschaft eingebunden werden können, von zentraler Bedeutung. In ihrer Dokumentation „Herr Bachmann und seine Klasse“, die in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurde, umkreist Maria Speth diese Frage anhand eines ganz besonderen Lehrers aus einer kleinen Stadt in Hessen. Allerdings erfordern die dreieinhalb Stunden, die betont unspektakulär sind und gerade dadurch zeigen, was im deutschen Schulsystem alles möglich ist, wenn man sich nur die Zeit nimmt, auch einiges an Sitzfleisch.
Seit 17 Jahren unterrichtet Dieter Bachmann an der Georg-Büchner-Gesamtschule in Stadtallendorf. Er ist ein Quereinsteiger, der schon äußerlich gar nicht wie ein typischer Lehrer daherkommt: So trägt er im Unterricht gerne ein abgeschnittenes AC/DC-Shirt über einem Kapuzenpullover, dazu stets eine Wollmütze, vielleicht auch, damit man ihm seine 64 Jahre nicht anmerkt. Seine Schüler heißen Ayman, Carolin, Hasan, Martin Mattia, Rabia oder Tim, sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt. Sie alle gehen in die sechste Klasse, sind also im letzten Schuljahr, bevor es an eine weiterführende Schule geht. Viele haben Migrationshintergrund und dadurch weniger Chancen in der kaum durchlässigen deutschen Gesellschaft. Aber zum Glück gibt es auch Lehrer wie Herr Bachmann…
Erstaunlich wirksames Tool: Wenn mal nicht weitergeht, hilft es meist, die Gitarre auszupacken...
Ex-Revolutionär, Aussteiger, Folksänger, Künstler. Ein bunter Hund ist dieser Dieter Bachmann, der im Mittelpunkt von Maria Speths Dokumentation steht. Wie genau er damals als nicht mehr ganz junger Mann mit Mitte 40 an einer Schule im kleinen Städtchen Stadtallendorf gelandet ist, bleibt offen. Klar ist nur, dass er dort seine Lebensaufgabe gefunden hat. Knapp 21.000 Einwohner hat die hessische Stadt, 70% haben Migrationshintergrund, rund 5.000 sind Muslime. Aus unterschiedlichsten Ländern kommen die Schüler der Klasse – aus der Türkei, Kasachstan, Brasilien, Russland, Bulgarien, Rumänien, Italien oder Marokko. Manche sind in Deutschland geboren, andere erst seit kurzer Zeit im Land. So oder so: Ihre Chancen auf einen guten Abschluss stehen oft schlecht – ihr Weg scheint allzu oft vorbestimmt, denn es gibt nicht viele Lehrer, die sich für sie einsetzen.
Ein gutes Jahr lang hat Maria Speth immer wieder in Dieter Bachmanns Klasse gefilmt, bevor es für den Lehrer in den Ruhestand geht und für die Schüler an eine weiterführende Schule – die meisten auf die Gesamtschule, wenige aufs Gymnasium. Mit dabei auch Reinhold Vorschneider, einer der renommiertesten deutschen Kameramänner, der schon bei Nicolette Krebitz‘ „Wild“ und Christoph Hochhäuslers „Die Lügen der Sieger“ für grandiose Bilder sorgte. Immer auf Augenhöhe hat er seine Breitwandkamera positioniert, zeigt die Schüler in langen Einstellungen, wie sie ihren Lehrern folgen, auch mal Widerworte geben. Viel Zeit nimmt sich Speth, stolze dreieinhalb Stunden, in denen nichts Spektakulär-Dramatisches passiert.
Es gibt keine Aha-Momente, keine kathartischen Szenen, in denen alles in eine ganz neue Richtung gelenkt wird. Nur Alltag, der aber eben keineswegs banal ist. Stattdessen ist dieser von einer durchdringenden Empathie geprägt, von der man sofort spürt, dass sie den Unterschied in einem (Kinder-)Leben ausmachen kann. So wie die Kamera stets auf Augenhöhe der Schüler bleibt, so behandelt Dieter Bachmann seine Schüler nicht von oben herab, sondern nimmt sie und ihre Sorgen ernst. Wie es ihm dabei gelingt, gleichzeitig Kumpel und Respektperson zu sein, ist das eigentlich Bemerkenswerte an diesem ganz speziellen Lehrer-Schüler-Verhältnis.
Im Subgenre der Schul-Dokumentationen reiht sich Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ nahtlos ein, irgendwo zwischen dem enorm erfolgreichen „Sein und Haben“ von Nicolas Philipert und „Klasse Deutsch“ von Florian Heinzen-Ziob, der unmittelbar von Integrationsklassen erzählt. Ein noch deutlicheres Vorbild ist aber wohl Frederick Wiseman, der Großmeister des beobachtenden Dokumentarfilms, der 1968 selbst „High School“ drehte, in dem er das Lehrer-Schüler-Verhältnis an einer amerikanischen Schule beschrieb. Damals fasste Wiseman sich mit gerade einmal 75 Minuten noch kurz, inzwischen ist keiner seiner Filme mehr unter drei Stunden lang.
In der Klasse von Herrn Bachmann lernt man Mathe - und Jonglieren.
Im Gegensatz zu Wisemans Filmen, in denen nie einzelne Personen im Mittelpunkt stehen, sondern stets eine ganze Institution porträtiert wird, bleibt Speth aber fast immer bei Herrn Bachmann. Nur gelegentlich wird der Blick erweitert, kommen andere Lehrer der Schule ins Bild, wird auf die Geschichte der Ortschaft Stadtallendorf eingegangen, in die schon früh Gastarbeiter kamen und die heute von zunehmend prekärer Industrie geprägt ist. Ob so eine ausufernde, für viele Zuschauer sicherlich auch abschreckende Länge dabei nun sinnvoll und notwendig ist, lassen wir mal dahingestellt – zumal die Doku trotz ihrer 217 Minuten erstaunlich kurzweilig daherkommt. Mit Herrn Bachmann als Lehrer wären die sich mitunter wie Kaugummi ziehenden Stunden damals in der Schule vermutlich auch viel schneller rumgegangen…
Fazit: In ihrer ausufernden Dokumentation „Herr Bachmann und seine Klasse“ porträtiert Maria Speth einen ungewöhnlichen Lehrer, der mit seinem ganz besonderen Umgang mit Schülern im Alleingang so ziemlich jedes Klischees über deutsche Pädagogen widerlegt.
Wir haben „Herr Bachmann und seine Klasse“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.