Gepflegte Langeweile im Dreivierteltakt
Von Gaby SikorskiOhne Zweifel ist die sich immer weiter hochschraubende Komposition des „Bolero“ von Maurice Ravel eines der populärsten Musikstücke der Welt. Im Jahr 1928 erschienen, wurde es inzwischen in praktisch jedem Musikstil gecovert. Von Benny Goodman und seiner entspannten Swing-Version bis zum legendär-lässigem Reggae-Bolero von Frank Zappa, der 1988 mit dem Taktstock in der einen und der Zigarette in der anderen Hand vor seiner Band stand. Deep Purple verwendeten in „Child In Time“ ein ziemlich zorniges Bolero-Riff, und dann ist da noch die Techno-Variante von Symphonic, die mit dem ursprünglichen Volkstanz kaum noch was zu tun hat. Doch nicht nur in der Musikwelt, auch im Film war der „Bolero“ immer mal wieder zu hören, am prägnantesten vielleicht in „10 – Die Traumfrau“ mit Bo Derek.
Im Gegensatz zu dem erfolgreichen Stück blieben sowohl der Komponist als auch seine übrigen Werke eher im Hintergrund. Der „Bolero“ mit seinen 300 Takten, einem einfachen Rhythmus in Endlosschleife, der sich immer mehr steigert, gilt inzwischen als eine Art One-Hit-Wonder der Klassik. Ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt, darin ist sich nicht einmal die Fachwelt einig. Ein Film über die Entstehung des „Bolero“ beschäftigt sich aber natürlich fast zwangsläufig auch mit der Biografie des Schöpfers: Was war vorher? Was kam danach? Und wie wirkte sich der Erfolg des Stücks für den Komponisten aus? Diese Fragen dürften in etwa die Ausgangsposition für das Drama „Bolero“ darstellen, das die viel beschäftigte Regisseurin Anne Fontaine („Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“) inszeniert und gemeinsam mit ihrem „Bis an die Grenze“-Co-Autor Claire Barré geschrieben hat.
Was also lässt sich sagen zu einem Film, bei dem die Recherche über die Entstehungsgeschichte des Musikstücks interessanter ist als das Nachdenken und Schreiben über den Film selbst? Wenn man dem Drehbuch glaubt, war der „Bolero“ ein Zufallstreffer, eine Notlösung, eventuell inspiriert von mechanischen Geräuschen, deren Takt zu Beginn einen schwungvollen Rhythmus vorgibt, der auf eine komplett falsche Fährte führt. Denn von der Wucht und der Leidenschaft des Musikstücks ist im Film kaum etwas zu sehen. Wenn Maurice Ravel (Raphaël Personnaz) seiner Auftraggeberin, der schon leicht verblühten Tänzerin und Choreografin Ida Rubinstein (Jeanne Balibar), die Fabrik zeigt, die ihn zur Komposition des Stücks inspiriert, dann könnte das mit Begeisterung zu tun haben – seinerzeit waren viele Menschen vom Lärm und Rhythmus der Maschinen fasziniert.
Doch die schöne Idee verpufft nach wenigen Minuten, denn Maurice Ravel erweist sich als ziemlich dröger Typ. Er arbeitet an seinem Stück, das ein Ballett werden soll. Ihm fällt nichts ein, die Zeit drängt etwas, ihm fällt immer noch nichts ein, er fährt ans Meer und vertröstet seine Auftraggeberin, klimpert Läufe auf dem Klavier. Dazwischen wird er auch mal von Erinnerungen als Sanitätsoffizier im 1. Weltkrieg gequält oder als nicht berücksichtigter Bewerber um einen hoch dotierten Musikpreis. Maurice Ravel bleibt herzlich uninteressant, und die nicht immer konkludente Geschichte wendet sich immer mehr den elegant gekleideten Frauen in seinem Leben zu, bis die Handlung irgendwann an ihrer Verschwommenheit zu ersticken droht.
Denn auch zu den Frauen wird wenig erzählt: Die Mutter (Anne Alvaro) glaubt an ihn, seine verheiratete Freundin und Förderin Misia Sert (Doria Tillier) ebenfalls, und natürlich auch Ida Rubinstein, aber eigentlich passiert nichts. Ist das eine Biografie über Ravel? Oder geht es um den „Bolero“? Der wird dann doch noch fertig und erlebt seine Premiere, bei der sich die damals wegen ihrer Schönheit, ihrer Tanzkunst und ihres Mutes gefeierte Ida Rubinstein in etwas affigen Bewegungen, die wohl erotisch sein sollen, mit ein paar jungen, hübschen Männern auf der Bühne verbiegt.
Irgendwie will das feurige Musikstück mit seinem leidenschaftlichen Rhythmus nicht zu Maurice Ravel und seinem Leben passen. Also keine süffige, temperamentvolle Story, aber auch kein Spiel mit Erwartungen oder Kontrasten. Das passt vielleicht ganz gut zu dem Komponisten, der vom „Bolero“ selbst sagte, dass es sich dabei nicht um Musik handeln würde. Aber das passt so gar nicht zum Paris der Belle Epoque und den Wilden Zwanzigern mit ihrer teilweise russisch geprägten Kunstszene. Misia Sert und Ida Rubinstein gehörten dazu – Maurice Ravel war nur dabei, aber nicht mittendrin. Auch daraus hätte sich ein schöner Ansatz für den Film gestalten lassen, und mit Wehmut denkt man an die großartigen Komponisten-Biopics von Ken Russell, erfüllt von musikalischen Visionen, traumhaften Bildern und Humor, die vielleicht wenig mit den wahren Lebensgeschichten von Tschaikowski, Mahler, Liszt & Co. zu tun hatten, in denen aber die Musik und die Biografien der Komponisten zu Bildern von ungeheuer einprägsamer Dynamik verschmolzen.
Maurice Ravel wird wacker und beherzt gespielt von Raphaël Personnaz, der spätestens durch seine Hauptrolle in der TV-Serie „L’Opera – Dancing In Paris“ bekannt wurde. Er macht aus Ravel einen von Perfektionismus gebeutelten Künstler, der auf die Unterstützung von Frauen angewiesen ist, aber kein offenkundiges sexuelles Interesse an ihnen hat – und auch nicht an Männern. Vielleicht war Maurice Ravel in der Realität asexuell, möglicherweise unterdrückte er seine Homosexualität. Die sexuelle Konnotation seines „Bolero“ war ihm jedenfalls ein Rätsel.
Warum der Film nicht einmal hier eine Interpretation wagt, bleibt unerklärlich. Tatsächlich war Maurice Ravel zu dem Zeitpunkt, als er den „Bolero“ komponierte, wohl schon an einer Form der frontotemporalen Demenz erkrankt, die oft jüngere Menschen betrifft: die Pick’sche Krankheit, die sich durch Störungen beim Sprechen, Schreiben und Lesen bemerkbar macht. Der Film zeigt Ravels Leidensweg immerhin in Ansätzen, er kann seine Kompositionen immer weniger zu Papier bringen und geht langsam zugrunde, aber zu diesem Zeitpunkt ist es leider zu spät für Mitgefühl oder Sympathie. Das Interesse an Maurice Ravel ist längst erloschen, er stirbt und sein „Bolero“ bleibt.
Fazit: Elegante Kostüme und gelegentliche schöne Bilder können nicht über das brave bis einfallslose Drehbuch hinwegtäuschen. Der Abspann mit seinen unzähligen Variationen zum „Bolero“ macht beinahe mehr Spaß als der Film selbst. Und wer Interesse an Leidenschaft, Schönheit und Dynamik zu dem viel gespielten Orchesterstück hat, könnte sich statt des Films auch das Eistanzpaar Jayne Torvill und Christopher Dean anschauen, die 1984 bei den Olympischen Spielen in Sarajevo zu den Klängen des „Bolero“ die Goldmedaille holten. Vier Minuten und achtundzwanzig Sekunden für die Ewigkeit.