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    Never Let Go - Lass niemals los
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Never Let Go - Lass niemals los

    Der ultimative Helikoptermutter-Horror

    Von Christoph Petersen

    Eigentlich wird die Nabelschnur ja schon in den ersten Minuten nach der Geburt durchtrennt. Aber für die Zwillingsbrüder Samuel (Anthony B. Jenkins) und Nolan (Percy Daggs IV) aus „Never Let Go – Lass niemals los“ sieht die Sache etwas anders aus: Natürlich sind sie, inzwischen im Grundschulalter, nicht mehr buchstäblich mit ihrer namenlos bleibenden Mutter (Halle Berry) verbunden. Aber wenn sie rausgehen, müssen sie sich als allererstes ein Seil um den Bauch binden. Sie dürfen sich dann auch nur so weit wegbewegen, wie es die Länge der (metaphorischen Nabel-)Schnur zulässt. Wenn diese Verbindung zum isoliert im Wald gelegenen Familienhaus auch nur für einen kurzen Moment abbricht, dann hätte das katastrophale Folgen: Schließlich hat Mutter auch schon ihren Mann und die Großeltern der Jungen töten müssen, weil diese einst ohne den Schutz des Seils vom Bösen berührt wurden.

    Im ersten Moment erinnert der Mystery-Thriller von Schock-Spezialist Alexandre Aja („High Tension“, „Crawl“) an „A Quiet Place“: Schließlich muss sich hier wie dort eine Familie in einer postapokalyptischen Welt durchschlagen, in der jeder noch so kleine Verstoß gegen „die Regeln“ den sofortigen Tod bedeuten kann. Aber während in John Krasinskis Horror-Hit, der inzwischen schon ein Sequel und ein Prequel nach sich gezogen hat, nie ein Zweifel daran besteht, dass die hörsensiblen Aliens tatsächlich existieren, liegt in „Never Let Go“ der Verdacht durchaus nahe, dass das durch zombieartige Wesen mit gespaltenen Echsenzungen symbolisierte Böse womöglich nur im Kopf der Mutter besteht. Geht es hier um eine bloße Psychose oder tatsächlich eine biblische Plage? Erleben wir hier die Geburtsstunde eines neuen Kults, wenn die Wahnvorstellungen der Mutter von den Söhnen als tatsächlicher Zustand der Welt akzeptiert werden?

    LEONINE
    Draußen lauert das Böse! Und nur wer durch ein Seil mit dem Haus verbunden bleibt, ist vor ihm sicher…

    „Never Let Go“ sieht von der ersten Einstellung an fantastisch aus. Selbst wenn man den Grund dafür nicht genau fassen kann, wirkt der kleine Teil des Waldes, den die drei mit ihren Seilen erkunden, um zumindest ein klein wenig Nahrung in Form von Eichhörnchen, Käfern und Baumrinde zu beschaffen, tatsächlich wie ein mythologischer Ort – und das liegt vor allem an Alexandre Ajas visuellem Gespür. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch das herausstechende Sounddesign, vom verstörenden Gequake der omnipräsenten Frösche bis zum Knacken der gebratenen Larven beim – meist nur sehr spärlichen – Abendessen. Oscarpreisträgerin Halle Berry („Monster’s Ball“) spielt ihren Part dabei völlig uneitel und mit der nötigen Ambivalenz: Fast schon von Szene zu Szene ändert man seine Meinung, ob sie ihre Kinder tatsächlich vor einer übernatürlichen Gefahr schützt oder sich das alles doch nur einbildet, weil sie es in der realen Welt einfach nicht mehr ausgehalten hat.

    Allerdings tritt das zentrale Mysterium dabei auch eine ganze Zeit lang auf der Stelle. Im Gegensatz zur Prämisse von „A Quiet Place“, die sich aufgrund der schier endlosen Möglichkeiten, versehentlich ein Geräusch zu machen, immer weiter variieren lässt, gibt es halt nur eine sehr begrenzte Anzahl von Dingen, die mit einem Seil um dem Bauch groß schieflaufen können (zumal schon der erste Ausflug direkt mit einem gebrochenen Knöchel endet). Klar werden da immer wieder neue allegorische Angebote eingestreut, von der Bibel im Nachtisch über die Echsenzungen des lauernden Bösen bis hin zu den Märchensammlungen von Hans Christian Andersen und den Gebrüder Grimm, aus denen die Mutter ihren Söhnen vor dem Schlafengehen vorliest. Aber selbst wenn speziell Noland zunehmend in Frage stellt, ob seine Mutter tatsächlich die Wahrheit über den Zustand der Welt erzählt, hält sich die Spannung zumindest in der ersten Hälfte noch in Grenzen.

    LEONINE
    Mutter (Halle Berry) würde alles tun, um ihre Söhne zu schützen – und das heißt, ihnen notfalls auch die Kehle durchzuschneiden, wenn sie ohne Seil vom Bösen berührt werden.

    Aber dann landet „Never Let Go“ einen überraschenden Doppeltreffer – und ab da ist man dann auch endgültig wach: Erst wird eine Nottat angedeutet, die ein großer Teil des Publikums den Protagonist*innen, dem Film und seinen Macher*innen vermutlich niemals verziehen hätte, und dann folgt auch noch direkt ein Niederschlag, den man gerade nach einem Blick auf das Poster so (früh) sicherlich nicht für möglich gehalten hätte. So entwickelt der Mystery-Thriller auf der Zielgeraden doch noch mal einen ganz neuen Drive, wenn die verschiedenen Implikationen einer solch indoktrinierten Weltsicht teils wunderbar böse durchgespielt werden. Wie es in Filmen mit solch ausgeklügelten Szenarien eher die Regel als die Ausnahme ist, wird zwar auch in „Never Let Go“ die Auflösung dem Setup nur bedingt gerecht, aber Alexandre Aja und sein Drehbuchautoren-Duo Kevin Coughlin & Ryan Grassby („Mean Dreams“) erzählen ihr Szenario zumindest sauber zu Ende. Ganz anders also als im gescheiterten „They See You“, dem anderen Hütte-im-Wald-Mystery-Thriller in diesem Jahr.

    Fazit: „Never Let Go – Lass niemals los“ sieht fantastisch aus und punktet zudem mit einem starken Cast sowie einem herausragenden Sounddesign. Zugleich ist das Szenario aber so sehr allegorisch aufgeladen, dass die Spannung bei all den Deutungsmöglichkeiten gerade in der ersten Hälfte noch auf Sparflamme vor sich hinköchelt.

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