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    Menschliche Dinge
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Menschliche Dinge

    "Rashomon" im #MeToo-Kontext

    Von Ulf Lepelmeier

    Menschliche Dinge“, ein packendes Drama zur #MeToo-Debatte, das verschiedene Sichtweisen auf eine schicksalhafte Partynacht gegenüberstellt, ist eine Adaption des gleichnamigen französischen Erfolgsromans von Karine Tuil, der wiederrum auf einem vieldiskutierten realen Fall basiert. Auf eindrückliche Weise beschreibt der bisher vor allem auf Komödien spezialisierte Filmemacher Yvan Attal („Die brillante Mademoiselle Neïla“) in seinem Justizdrama, wie die Leben zweier Familien auf Grund einer Vergewaltigungsbeschuldigung aus der Bahn geworfen werden. Dabei versucht er beide Blickwinkel auf die nun vor Gericht verhandelten Ereignisse neutral zu zeichnen und die gegensätzlichen Sichtweisen nachvollziehbar zu machen.

    Der 22-jährige Stanford-Student Alexandre Farel (Ben Attal) ist für ein paar Tage zurück in Paris, um der Verleihung des höchsten staatlichen Kulturpreises an seinen einflussreichen Fernsehjournalisten-Papa Jean (Pierre Arditi) beizuwohnen. Die von seinem Vater getrenntlebende Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg) steht als feministische Essayistin ebenfalls in der Öffentlichkeit. Bei einem gemeinsamen Abendessen lernt Alexandre den neuen Partner seiner Mutter sowie dessen 16-jährige Tochter Mila (Suzanne Jouannet) kennen. Als er sich verabschiedet, um eine Party von Freunden zu besuchen, besteht Claire darauf, dass er Mila mitnehmen soll. Am nächsten Morgen wird Alexandre vom Klingeln der Polizei aus dem Schlaf gerissen – Mila hat eine Anzeige wegen Vergewaltigung gegen ihn erstattet. Er wird direkt verhaftet. Während sein Vater Jean tobt, die Anklage für unhaltbar erachtet und die geschockte Claire sich einfach nicht vorstellen kann, dass ihr Sohn so etwas wirklich getan haben könnte, will Milas Vater Adam (Mathieu Kassovitz) nur seiner aufgelösten Tochter beistehen. Beide Familien kämpfen fortan vor Gericht gegeneinander…

    Alexandre Farel (Ben Attal) wird nach einer aus seiner Sicht harmlosen Partynacht von der Polizei aus dem Bett geklingelt ...

    Was genau macht sexuellen Konsens aus und ab wann ist von einer Vergewaltigung zu sprechen, fragt sich Regisseur Yvan Attal in seinem Gerichtsdrama, in dem er seine Frau Charlotte Gainsburg („Antichrist“) als bestürzte Mutter des Angeklagten und den gemeinsamen Sohn Ben Attal („Der Hund bleibt“) als beschuldigten Stanford-Studenten inszeniert. Im Vergleich zum zugrundeliegenden Roman weitetet der Film die Perspektive aus und verhandelt nicht nur die Sichtweise der wohlhabenden und in der Öffentlichkeit stehenden Familie Farel, sondern begleitet in einem zweiten Teil auch die sich erniedrigt fühlende Mila, deren Scharm und Traurigkeit Newcomerin Suzanne Jouannet gefühlvoll herauszuarbeiten versteht, bevor im finalen Gerichtsdrittel beide Fraktionen wieder aufeinandertreffen.

    Alexandre wird von Ben Attal gekonnt als charismatischer, durchaus liebenswürdiger, selbstsicher junger Mann verkörpert, der sich zuerst keiner Schuld bewusst ist. Aufgewachsen in der Pariser High Society hat er ein kultiviertes Auftreten, legt aber auch eine gewisse Arroganz an den Tag. Er fühlt sich der zu ihm aufschauenden Mila überlegen, ohne gegenüber dem jüngeren Mädchen ein Verantwortungsgefühl an den Tag zu legen. Charlotte Gainsbourg legt ihre Nebenrolle als betroffene Mutter sehr emotional an und weiß insbesondere bei ihrem späteren Gerichtsauftritt als zwischen ihrer Mutterrolle und ihren feministischen Ansichten zerrissene Frau zu glänzen.

    Ambivalenzen aushalten

    Gegensätzliche Wahrnehmungsebenen bezüglich einer Vergewaltigung durchzuspielen und dem Publikum unterschiedliche Deutungsansätze anzubieten, hat eine lange Kinotradition. Zuletzt wendete Regisseur Ridley Scott das auf den japanischen Regisseur Akira Kurasawa zurückgehende „Rashomon“-Prinzip an, um in einem mittelalterlichen Setting eine Vergewaltigungsanklage zu thematisieren: Während sein „The Last Duel“ aber keinerlei Zweifel daran lässt, dass es sich bei der zuletzt visualisierten Sicht der Klägerin Marguerite de Carrouges um die Wahrheit handelt, bemüht sich Attal um Ambivalenz. Was Alexandre aus seiner Wahrnehmung heraus als einvernehmlich erachtet, ist aus Milas Perspektive ein demütigender Vergewaltigungsakt gewesen.

    Dabei wird in „Menschliche Dinge“ auch viel Zeit in die Zeichnung der familiären Milieus von Mila und insbesondere Alexandre investiert. Ihre Verhaltensweisen und Situationsbeurteilungen werden hier maßgeblich durch die sie prägende Umgebung begreiflich, die sie den verhängnisvollen Abend, in all seinen Grautönen, unterschiedlich wahrnehmen ließen. Mila hatte Alexandre an dem Abend nie aktiv darum gebeten aufzuhören oder ein ablehnendes Wort geäußert, er aber auch keinerlei Einfühlungsvermögen für ihre Situation an den Tag gelegt und Mila aus fraglichen Beweggründen auch erst in die prekäre Lage gebracht. Letztlich steht hier Aussage gegen Aussage. Auch die mediale Schlacht, die Social-Media-Resonanz, die vorschnelle Verurteilungen auf beiden Seiten heraufbeschwört und befeuert, Hassmails und Beleidigungen produziert und die unerträgliche Situation für allen Beteiligten noch weiter hochschaukelt, lässt Yvan Attal mit anklingen.

    ... Mila (Suzanne Jouannet) wiederum hat die Geschehnisse ganz anders erlebt und Anzeige erstattet.

    Besonders schwierig stellt sich bei Attals Ansatz der Ausgeglichenheit die Figur von Alexandres Vater Jean dar, der von Pierre Arditi („Herzen“) als Egozentriker ohne jeglichen Skrupel dargestellt wird. Seine erste Reaktion auf die Anschuldigungen ist, dass sein begehrenswerter Sohn doch gar keine Vergewaltigung nötig habe und das Mädchen deshalb wohl verrückt sein müsse. Aber Jean vertritt nicht nur strikte, eigenwillige Positionen, sondern bekommt auch noch eine Nebenstory im Film, in der er eine junge Praktikantin verführt. So wie er mit ihr umgeht, ihre Unterwürfigkeit und Verehrung quasi als selbstverständlich einfordert, scheinen sich Affären dieser Art schon oft zugetragen zu haben, auch wenn die Nacht mit gerade dieser Praktikantin noch eine überraschende Wendung einschlagen wird. Die Darstellung des Vaters als sehr machtbewussten Womanizer, der vor Gericht sein Unverständnis für eine solche Anklage für einen „Akt von 20 Minuten“ äußert, wird als etwas zu einfacher möglicher Entschuldigungsgrund für das Fehlverhalten Alexandres aufgeführt.

    Im letzten, etwas zu lang und didaktisch geratenen Teil des Films, der einen traditionsbewussten Gerichtsdrama-Modus einschlägt, kommen dann die beide Fraktionen nach zweieinhalb Jahren zum finalen Verfahren nochmal äußerst ausführlich zu Wort und die Grauzone der entgegengesetzten Wahrnehmungen wird eingehend thematisiert. Eine klare Wahrheit existiert dabei nicht, nur persönliche Sichtweisen auf die Ereignisse der Partynacht.

    Fazit: Aufwühlend, kontrovers und relevant – Yvan Attal gelingt ein hochglanzpoliertes, schauspielerisch überzeugendes, aber auch didaktisches #MeToo-Drama. In „Menschliche Dinge“ werden die Sichtweisen von Klägerin und Angeklagtem sowie ihrer Familien komplex gezeichnet und ausbalanciert gegenübergestellt, so dass der Zuschauer seine ganz persönlichen Schlüsse zu den Geschehnissen ziehen kann.

     

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