Konstruktiver Zorn
Von Michael MeynsEs ist eine dieser Geschichten, die jeden Menschen, der auch nur über ein minimales Gerechtigkeitsempfinden verfügt, einfach wütend machen muss: Das amerikanische Gefangenenlager in Guantanamo, wo zwar auch tatsächliche Terroristen, aber vor allem auch viele bloß Verdächtigte unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert und gefoltert wurden. Einer der ersten Häftlinge war der Bremer Murat Kurnaz, der Anfang Oktober 2001 in Pakistan verhaftet wurde.
Wie seine Mutter und ein Anwalt ihn nach jahrelangem Kampf gegen die bürokratischen und politischen Instanzen endlich frei bekamen, schildert Andreas Dresen in seinem betont nüchternen (Justiz-)Drama „Rabiya Kurnaz gegen George W. Bush“, der lange braucht, um mehr zu werden als eine bloße Nacherzählung haarsträubender Ereignisse, dann aber am Ende auf berührende Weise zeigt, dass es sich (manchmal) lohnt, den Glauben an Gerechtigkeit doch nicht aufzugeben.
Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) und ihr Anwalt (Alexander Scheer) wollen dem US-Präsidenten ihre Petition persönlich überbringen.
Oktober 2001. Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) ist eine Hausfrau mit drei Kindern aus Bremen, ihr Mann arbeitet im Schichtbetrieb bei Mercedes. Als ihr Ältester Murat über Nacht wegbleibt, erwischt sie ihn gerade noch per Telefon am Flughafen Frankfurt. Doch dann reißt der Kontakt ab – und zwar für fünf Jahre. Es dauert, bis Rabiye erfährt, dass ihr Sohn verhaftet und auf die amerikanische Militärbasis Guantanamo gebracht wurde, wo er außerhalb des amerikanischen Rechtssystem ohne anwaltlichen Beistand und sonstige Rechte inhaftiert ist.
Bei den deutschen Behörden hat Rabiye wenig Hilfe zu erwarten, denn Murat ist offiziell türkischer Staatsbürger. Doch dann trifft sie auf den Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke (Alexander Scheer), der eigentlich einen anderen Termin hat – aber dann doch zuhört. Gemeinsam zieht das ungleiche Duo durch die Instanzen, verklagt schließlich sogar den damals amtierenden amerikanischen Präsidenten George W. Bush – und bekommt Recht! Doch selbst diese Entscheidung vom obersten Bundesgericht der USA bedeutet nicht automatisch, dass Rabiye ihren geliebten Sohn endlich wieder in ihre Arme schließen kann…
Auf die Frage, welche Reaktion er mit seinem Film erzeugen will, sagt Andreas Dresen („Gundermann“) im Presseheft: „Produktiven Zorn.“ Nun ist Zorn zwar eine allzu menschliche Emotion, aber nicht unbedingt eine besonders komplex. Dass Murat Kurnaz nach Jahren der Inhaftierung endlich frei gelassen wurde, dürfte den allermeisten Zuschauern von „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ schon vorher bewusst sein – ebenso, welch politischer und moralischer Skandal das Gefangenenlager auf Guantanamo war und noch bis heute ist. Was kann und will ein zweistündiger Film also noch Spannendes über dieses Thema erzählen? Wie will er über die bloße Bestätigung von gerechter moralischer Empörung hinausgehen?
Zumal Dresens Film ja auch längst nicht der erste Film über die Thematik ist. Erst vergangenes Jahr zeigte „Der Mauretanier“ Tahar Rahim als Gefangenen in Guantanamo, während draußen Jodie Foster als Anwältin für seine Freilassung kämpfte. Bereits bei der Berlinale 2006 war Michael Winterbottoms Doku-Drama „The Road To Guantanamo“ (mit dem damals noch unbekannten Riz Ahmed in seinem Filmdebüt) zu sehen, einige Jahre später lief Errol Morris Dokumentarfilm „Standard Operating Procedure“, der die Missstände von Abu Ghraib nachzeichnete. Sogar Murat Kurnats unmittelbare Erfahrungen wurde schon geschildert, und zwar von Stefan Schaller in seinem Film „Fünf Jahre Leben“.
Was „Rabiya Kurnaz gegen George W. Bush“ von den anderen Filmen unterscheidet, ist die konsequente Außenperspektive: Nur am Ende taucht der ältere Murat Kurnaz kurz auf, ansonsten bleibt er eine Chiffre. Ob er tatsächlich so ein guter Junge war, wie Rabiye nicht müde wird zu betonen? Ob er tatsächlich nur in Pakistan war, um den Koran zu studieren? Es spielt keine Rolle, auch wenn viel dafür spricht, dass er tatsächlich unschuldig ist. Wovon Andreas Dresen und seine Drehbuchautorin Laila Stieler hier erzählen, geht über diese Fragen hinaus. Für Rabiye besteht nie ein Zweifel darin, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun muss, um ihren Sohn zu befreien – und für den Anwalt besteht kein Zweifel, dass Murat Kurnaz wie jeder Mensch Gerechtigkeit verdient.
Aus diesem universalen Antrieb, sei es der Mutter oder des Anwalts, schöpft der Film seine Kraft, die sich langsam, aber sicher entfaltet. Erzählt wird episodisch, mal spielt eine Szene im beschaulichen Bremen, dann vor den Monumenten der amerikanischen Hauptstadt Washington DC, mal im Kaufhaus, mal vor dem Supreme Court. Lange Zeit tragen vor allem die perfekt besetzen Hauptdarsteller*innen Meltem Kaptan (mit einer entwaffnend-bodenständigen Schlagfertigkeit) und Alexander Scheer (mit einem trockenen Bremer Dialekt) über die zerfaserte Struktur hinweg. Das ungleiche Duo, das doch am selben Strang zieht, sorgt oft für komödiantische Culture-Clash-trifft-Buddy-Movie-Momente, die fast vergessen lassen, wofür sie kämpfen.
Da die Häflinge in Guantanamo keine Rechte haben, muss der Kampf für ihren Sohn nicht nur vor den Gerichten, sondern auch mit PR geschlagen werden.
Doch die Zeit vergeht – und zwar unermüdlich: Die jüngeren Kinder werden älter, die Jahreszeiten vergehen und immer wieder wird zu Beginn einer Episode auf den Tag seit Beginn von Murat Kurnaz Verschwinden hingewiesen: Tag 1, Tag 92, Tag 782, Tag 944, Tag 1252, Tag 1509, bis am Tag 1786 endlich die Gerechtigkeit gesiegt hat – zumindest ein bisschen. Denn eine Entschuldigung oder gar eine Entschädigung hat Murat Kurnaz für seine illegale Haft bis heute nicht erhalten. Und das obwohl inzwischen bekannt ist, dass amerikanische Behörden der damaligen Rot-Grünen-Bundesregierung im Herbst 2002 die Freilassung von Murat Kurnaz anboten.
Damals im Amt: Gerhard Schröder als Kanzler, Joschka Fischer als Außenminister und nicht zuletzt Frank-Walter Steinmeier als Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator – also eben jener Steinmeier, der am Tag der Berlinale-Weltpremiere von „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ im Amt des Deutschen Staatspräsidenten bestätigt wurde. Als pauschale Anklage an die Mächtigen will Dresen seinen Film sicher nicht verstanden wissen, denn gegen Ende ist es die frisch ins Amt gewählte Angela Merkel, die entscheiden Druck ausübt. Ein Fanal gegen die Gleichgültigkeit ist sein Film dennoch. Zorn kann eben doch auch produktiv sein.
Fazit: Aufgrund der episodischen Struktur dauert es eine ganze Weile, aber dann reißen die starken Hauptdarsteller*innen sowie ihr unermüdlicher Kampf um Gerechtigkeit unweigerlich mit.
Wir haben „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.