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    Die Linie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Linie

    Eine Tochter sieht rot

    Von Björn Becher

    Straßen spielen in den Filmen von Ursula Meier immer wieder eine Rolle. In „Home“ zerstört eine Autobahn das ruhige Idyll einer Familie. In „Winterdieb“ ist die Schnellstraße, welche die Protagonist*innen immer wieder überqueren müssen, auch die Grenze zwischen dem Skiort der reichen Urlauber*innen und dem Hochhaus der armen Einheimischen. In „Die Linie“ ist ein Fahrbahnrand nun der Treffpunkt, an dem zwei Schwestern Musik machen und damit vielleicht den letzten Funken Hoffnung für die Wiederzusammenführung der Familie am Lodern halten.

    In mit einer beeindruckenden Klarheit und Präzision gestalteten Bildern von Meiers Stammkamerafrau Agnès Godard und herausragenden Schauspielerinnen in den Haupt- und Nebenrollen erzählt die preisgekrönte französisch-schweizerische Regisseurin ein weiteres mitreißend-intensives Drama, das aber auch immer wieder ins Komische kippt. Wer Meier kennt, kann sich vielleicht schon denken, dass es dabei auch reichlich Tristesse gibt – und doch immer auch eine Portion Hoffnung mitschwingt.

    Auf einem Hügel am Straßenrand wartet Marion (Elli Spagnolo) auf ihre große Schwester.

    Nachdem sie ihre Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) bei einem Streit verprügelt hat, muss sich Margaret (Stéphanie Blanchoud) auf richterliche Anordnung für die nächsten drei Monate mindestens 100 Meter vom Haus fern halten. Weil sie sich am Anfang trotzdem immer wieder nähert, malt ihre kleine Schwester Marion (Elli Spagnolo) schließlich eine blaue Linie als Grenze.

    An einer Straße, die von dieser Linie gekreuzt wird, treffen sich die beiden Geschwister immer wieder. Hier begleitet Margaret Marion bei deren Gesangsstunden mit der Gitarre. Dabei verschweigt das zwölf Jahre alte Mädchen ihrer deutlich älteren Schwester aber, warum die Mutter, einst eine berühmte Pianistin, nicht mehr mit ihr übt...

    Eine unbändige Kraft im Zentrum

    Zu Beginn von „Die Linie“ sehen wir nur eine weiße Wand. In Zeitlupe und zu klassischer Musik erleben wir hier nur einige Auswirkungen des großen Streits, der da gerade tobt. Dass neben Geschirr und Blumenvasen auch Schallplatten, CDs und Notenblätter an der Wand landen, erzählt uns schon etwas über die musikalische Familie, bevor wir sie das erste Mal zu Gesicht bekommen. Erst wenn die Kamera uns den übrigen Raum zeigt, lässt Meier auch erste, noch vereinzelte Geräusche des Streits zu uns vordringen. Ein Knall, als Christina auf der Flucht vor ihrer tobenden Tochter mit Wucht auf einem Sofa landet; das Donnern, als ein Tisch umgeschmissen wird - schließlich ein einzelner Schrei.

    Wenn schließlich drei Männer die blutende und wie ein Berserker um sich schlagende Margaret unsanft raus in den Schnee befördern und hinter ihr die Tür verschließen, hat Maier ohne Dialoge schon unglaublich viel über Figuren und Konflikte erzählt – und uns vor allem in ihr Drama gezogen. In diesem gibt sie dann aber ihrem Cast immer wieder den Raum, um zu brillieren. Das ist hier vor allem Stéphanie Blanchoud („Public Enemy“) als mit Spuren zahlreicher Prügeleien übersäte Margaret. Von ihr geht gleichzeitig eine scheinbar nicht zu bändigende Kraft und Wut wie auch eine unglaubliche Zerbrechlichkeit aus.

    Auf der Bühne findet das Aggressionsbündel Margaret (Stéphanie Blanchoud) endlich auch mal zur Ruhe.

    Eine zweite Perspektive auf das Familiendrama eröffnet uns die nach und nach in den Mittelpunkt rückende Marion. Viel später geboren, bleibt sie zurück. Ihre mittlere Schwester Louise (India Hair) ist mit Zwillingen hochschwanger und gründet gerade eine eigene Familie, nun wurde auch ihr letzter Halt Margaret aus dem Haus verbannt. In diesem sitzt sie nun mit einer Mutter fest, die nur auf sich schaut und der man es als Kind nicht recht machen kann. Zeitweise hat sie sogar nicht einmal mehr die letzte Person an ihrer Seite, weil die Mutter für Tage verschwindet …

    … um dann plötzlich mit einem viel jüngeren neuen Lover wieder aufzutauchen. Der von „James Bond: Keine Zeit zu sterben“-Bösewicht Dali Benssalah gespielte Hervé ist vor allem ein Mittel, um Beziehungen und Charakteristiken der Frauen zu veranschaulichen. Mit Biss und deutlichen Spitzen seziert Meier dabei Familiendynamiken. Wenn Marion mit Christina ein Weihnachtsgeschenk für die neue Liebe der Mutter kaufen muss, wird sie zwar hinsichtlich Größe und Farbe des Hemdes um Rat gefragt – ihr wird aber auch direkt deutlich gemacht, wie wenig ihre Antwort eigentlich zählt.

    Eine teilweise richtig böses Familiendrama

    In einem zwar etwas platten, aber nichtsdestotrotz bitterbös-komischen Moment treibt Meier das auf die Spitze: Am Weihnachtsabend holt Christina zu einer Rede aus. Wenn sie im Beisein ihrer neugeborenen Enkelinnen auf die Liebe anstößt, glauben Optimisten vielleicht für eine Sekunde an die Familienzusammenführung. Doch dann redet sie ausschließlich über den neuen Mann in ihrem Leben – und steckt diesem vor der restlichen Familie auch noch ausgiebig die Zunge in den Hals. Sich unter einem Vorwand das Shirt ausziehen muss er auch noch – als reine Präsentation, was sie da für einen Fang gemacht hat.

    In solchen Momenten wünscht man den Schwestern vielleicht, aus dieser tristen Familie ausbrechen zu können und zu verschwinden. Womöglich ist es ein Segen, dass sich Margaret nicht mehr nähern darf, nicht mehr unter den ständigen Konflikten mit ihrer passiv-aggressiven Mutter zu leiden hat und mit der Distanz und der Linie auch eine neue Ruhe zu finden scheint. Dem gegenüber steht die Sehnsucht nach dem familiären Zusammenhalt, der nicht nur in Margaret zu wachsen scheint. Am Ende präsentiert Meier keine Lösungen für diesen und alle weiteren Konflikte. Aber sie hinterlässt zumindest eine Prise Hoffnung.

    Fazit: Immer wieder großartig bebildert und stark gespielt. Mit „Die Linie“ erzählt Ursula Meier ein weiteres so sehenswertes wie intensives Familiendrama.

    Wir haben „Die Linie“ auf der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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