Krumm und schief und ganz schön heftig
Von Christoph PetersenFenster, Türen, Gänge, Straßen, alles ist hier total krumm und schief. Nach der demütigenden Niederlage im Ersten Weltkriegs scheint ganz Österreich buchstäblich aus den Fugen geraten zu sein. Der Kaiser Franz Joseph I hat abgedankt, die Republik wurde ausgerufen und die aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten werden nicht länger für ihren Heldenmut im Namen des Vaterlandes geehrt, sondern als Überbleibsel einer untergegangenen Ära ins Obdachlosenheim abgeschoben. Regisseur Stefan Ruzowitzky hat seinen historischen Serienkiller-Thriller „Hinterland“ quasi ausschließlich vor Blue Screens im Studio gedreht …
… und die eingesetzten Hintergründe zudem so sehr verfremdet, dass das Nachkriegs-Wien plötzlich aussieht wie das Set eines expressionistischen Stummfilms mit einem Tupfer des „verbogenen“ Paris aus Christopher Nolans „Inception“. Da muss man sich erst mal dran gewöhnen, zumal das gewagte technische Experiment auch nicht in jeder Szene gleich gut funktioniert. Aber dann setzt sich doch die bedrückende Atmosphäre dieser schrägen, dem Publikum wie den Hauptfiguren jeden sicheren Halt verwehrenden Bilder durch – und das ist natürlich schon mal die halbe Miete für einen Thriller, der so körperlich und düster ist, wie man es aus dem deutschsprachigen Genrekino so gar nicht gewohnt ist.
Das Wien in "Hinterland" sieht aus wie aus einem Stummfilm-Horrorfilm.
Im Gegensatz zu seinen Kameraden, die nach ihrer Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Wien betteln gehen müssen, hat Peter Berg (Murathan Muslu) zumindest noch eine Wohnung – selbst wenn seine Frau und seine Tochter, die in der Zwischenzeit aufs Land geflohen sind, dort nicht mehr auf ihn warten. Obwohl der ehemalige Starermittler nicht vorhat, in seinen alten Job zurückzukehren, wird er doch schon in der ersten Nacht in einen spektakulären Mordfall hineingezogen: Einer seiner Kameraden wurde von einem unbekannten Mann mit 19 Holzpfählen durchbohrt – und bei dem nackt an einen Zaun gebundenen Toten findet sich ein Zettel mit Bergs Adresse.
Für den jungen sozialdemokratischen Kommissar Paul Severin (Max von der Groeben) steht der Heimkehrer deshalb ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, während sich die Gerichtsmedizinerin Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries) sicher ist, dass nur ein genialer Ermittler wie Berg diesen vertrackten Fall überhaupt aufklären kann. Aber dann geschehen auch schon die nächsten Morde – einer kranker, grausamer und abscheulicher als der andere. Nur die Zahl 19, die spielt bei jeder der Taten auf die eine oder andere Weise eine ganz zentrale Rolle…
Es ist sicherlich kein Zufall, dass „Hinterland“ ausgerechnet im Jahr 1920 spielt – schließlich kam in jenem Jahr auch das Stummfilm-Meisterwerk „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in die Kinos. Robert Wienes expressionistischer Horror-Klassiker ist das offensichtlichste Vorbild für Stefan Ruzowitzkys visuellen Ansatz – selbst wenn eine Reihe von Szenen zugleich auch so wirken, als würden sich die Menschen hier durch die Hintergrundgrafik eines Videospiels bewegen. Klar stehen all die schiefen Balken und verwinkelten Einstellungen auch für die verquere, haltlose Welt, in der sich die als kaisertreue Soldaten losgezogenen Kriegsrückkehrer völlig fremd und verloren fühlen. Aber die Metaphorik ist schon nach wenigen Szenen durchschaut. Viel wichtiger ist die verquer-ungemütliche Atmosphäre, welche die digital verfremdeten Bilder dauerhaft erzeugen.
Dazu passt dann auch die unerwartet rabiate Darstellung der Todesarten – wobei einen das angesichts des Regisseurs vielleicht gar nicht so sehr überraschen sollte: Stefan Ruzowitzky, dessen Zweiter-Weltkriegs-Heist-Drama „Die Fälscher“ mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde, hat schließlich mit „Anatomie“ schon vor 20 Jahren den einzigen echten deutschen Slasher-Superhit abgeliefert – und sein zu Unrecht etwas übersehener „Die Hölle – Inferno“ ist gar ein so gnadenlos-intensiver Psycho-Thriller, das er sich auch vor der US-Konkurrenz wie „Sieben“ nicht zu verstecken braucht. Auch „Hinterland“ protzt nun einmal mehr mit dreckiger Körperlichkeit – inklusive einer Szene, in der einem bis zur Hüfte in einem Käfig mit hungrigen Ratten steckenden Mann beide Beine bis auf die Knochen abgenagt wurden.
Die aus Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten werden nicht als Helden gefeiert - sondern als Bettler in die Gosse gestoßen...
Murathan Muslu („Skylines“) brilliert als desillusionierter Kriegsheimkehrer ebenfalls mit einer die ganze Leinwand dominierenden Körperlichkeit und Autorität – nur warum Peter Berg ein ach so genialer Ermittler sein soll, wird eigentlich nie wirklich klar. Bei den Untersuchungen erfährt man viel über die chaotischen Zeiten nach dem Krieg, in denen vor allem die Opportunist*innen einen guten Schnitt gemacht haben – aber tatsächlich clevere Schlüsse werden eher nicht gezogen. Am Ende ist es eine persönliche Verbindung zum Fall, die den Durchbruch bringt – und die ist in dem Moment, in dem Berg sie erklärt, derart offensichtlich, dass man sich vielmehr fragt, wie er da nicht schon viel früher draufgekommen ist.
Und ganz ehrlich: Wer 2 und 2 zusammenzählen kann, weiß eh schon nach dem Vorspann, wer der Mörder ist. Da ist David Fincher bei „Sieben“ doch deutlich schlauer vorgegangen, denn damals tauchte der Name Kevin Spacey erst im Abspann zum ersten Mal auf der Leinwand auf.
Fazit: Zunächst ganz schön merkwürdig, aber dann spannend und makaber. „Hinterland“ ist zuallererst ein überwiegend geglücktes formales Experiment, das aber auch als historischer, selbst vor extremen Schreckensbildern nicht zurückschreckender Thriller einen düster-abgründigen Sog entwickelt.