Die manisch-depressive Antwort auf "Amélie"
Von Jochen WernerAm Anfang wirkt im neuen Film von „Mademoiselle Populaire“-Regisseur Regis Roinsard alles wie in einer jener poppig-bunten Retro-Komödien, wie sie nur das französische Kino kann. Eine Texttafel verortet uns am Ende der 1950er-Jahre, die Sonne scheint auf eine Villa an der Côte d’Azur, das Meer glitzert strahlendblau, Romain Duris schwindelt sich charmant durch eine Party der Reichen und Schönen und sieht dabei ein bisschen aus wie Jean Dujardin. Aber der von ihm gespielte Georges ist nicht der einzige Fremdkörper, auch eine schöne junge Frau (Virginie Efira) fällt aus dem Rahmen, tanzt ganz allein zwischen den würdigen Herren und wohlerzogenen Damen. Eigentlich sei ihr Name Camille, erfährt Georges bald, doch heute sei ihr eher nach Antoinette. Ein ganzes Leben lang denselben Namen tragen, das sei doch furchtbar langweilig.
Es wird dann rasch klar, dass die Bestseller-Verfilmung „Warten auf Bojangles“ die Geschichte einer Amour fou ist. Vor den Augen der entgeisterten Festgesellschaft springen Camille und der als Scharlatan aufgeflogene Georges kurzerhand ins Meer und flüchten schließlich patschnass im Cabriolet – schier endlose verschlungene Küstenstraßen entlang und in eine große Romanze hinein. Zumindest bis Georges den Wagen vor einen Baum setzt. Da dieser jedoch direkt vor einer kleinen Kapelle steht, beschließen die beiden zu heiraten. Also zumindest symbolisch, um dann direkt auf dem Altar zu vögeln. Am nächsten Morgen ist Camille verschwunden, aber Georges lässt sie nicht so einfach ziehen. Und obgleich sie alles versucht, George seine Liebe auszureden, kann sie dessen unbedingter Entschlossenheit, sie zu lieben, doch nichts entgegensetzen. Neun Monate später kommt ihr Sohn Gary (Solan Machado-Graner) zur Welt.
Wenn George (Romain Duris) und Camille (Virginie Efira) aufeinandertreffen, dann gibt es nur noch den puren romantischen Exzess.
Aus dessen Perspektive werden wir fortan die Geschichte von Georges und Camille mit all ihren extremen Höhen und Tiefen erleben. In der Schule ist Gary ein Außenseiter und wird verprügelt, wenn er vom Leben seiner Eltern erzählt. Jeden Abend würden diese große Feste feiern, mit Hunderten von Gästen. Das sei gelogen, wird ihm entgegnet. Nur Filmstars würden so leben. Für Gary, Camille und Georges – sowie den besten Freund der Familie, genannt schlicht „Mistkerl“ (Grégory Gadebois) – ist dieses Leben voll Exzess und Leichtigkeit aber Realität. Jedenfalls bis Georges allmorgendlich das luxuriöse Apartment verlässt und zu seiner schnöden Arbeit als Gebrauchtwagenhändler geht. Camille und Gary hingegen gehören die Tage voller Fantasie und Kreativität, zumal die exaltierte Mutter beschließt, ihren Sohn aus der Schule zu nehmen und zuhause zu unterrichten. Auch dass Georges einen so großen Teil seines Lebens mit Arbeit verschwende und sie immer wieder allein zurücklasse, scheint ihr immer unerträglicher.
Man spürt in diesem ersten Drittel von „Warten auf Bojangles“ rasch, dass dieses glamouröse Dasein auf Sand gebaut ist, dass dieses Liebes- und Familienglück jenseits aller Grenzen des bürgerlichen Daseins nicht von Dauer sein kann und dass die Fallhöhe gewaltig sein wird. Immer mehr Brüche kommen in der überbordend fröhlichen Fassade zum Vorschein – und es ist irgendwann schlicht unübersehbar, dass Camilles Eskapaden nicht mehr mit charmanter Exzentrik abgetan werden können, sondern zur Gefahr für sie selbst und alle Menschen um sie herum werden. Auch ökonomisch schlägt das gemeinsame Luxusleben auf dem harten Boden der Realität auf, und schließlich kommt Georges nicht mehr umhin, seine geliebte Camille in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Die dortigen brutalen Therapiemethoden verschlimmern ihre Lage jedoch nur.
Auch mehr als 20 Jahre nach dem durchschlagenden Welterfolg von Jean-Pierre Jeunets Arthouse-Blockbuster „Die fabelhafte Welt der Amélie“ arbeitet sich das französische Kino nach wie vor an Amélie Poulain ab. Auch wenn man „Warten auf Bojangles“ sieht, dann kommt man nicht umhin, an Jeunets ultraromantische Feier der neurodiversen Exzentrik zu denken. Régis Roinsards deutlich abgründigeres Werk nimmt sich daneben allerdings aus wie ein Versuch, dem Manischen das Depressive zurückzugeben. Dabei handelt es sich keineswegs um den ersten Versuch dieser Art, manch einem französischen Filmemacher war der Hang zum Zuckrigen, mit dem Jeunets Kultfilm einst die ganze Cinewelt im Sturm eroberte, schon damals suspekt – Yann Samuels perfider „Liebe mich, wenn du dich traust“ etwa wagte bereits 2003, das Toxische hinter der Romantik freizulegen und wäre heute sicherlich eine Wiederentdeckung wert. Wie Roinsard seinen Stoff jedoch in tonale Exzesse und formale Kontraste übersetzt, ist so bewegend wie schlussendlich erschütternd.
Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist dabei, wie sich „Warten auf Bojangles“ immer wieder selbst kopfüber in die radikal übersteigerten Emotionalitäten hineinstürzt, von denen er erzählt. Der ganze Film würde in sich zusammenbrechen, wenn er die „Luftschlösser in Spanien“, die die Protagonist*innen füreinander bauen, nicht auch in der filmischen Realität errichten würde. „Once upon a time ...“ (also „Es war einmal…“) steht dann allerdings über ihren Torbögen. Dieser Hang zum Exzess und zur Realitätsflucht macht „Warten auf Bojangles“ auch visuell zum großen Kino – der Gefahr, sich darin zu verlieren, scheint sich Roinsard allerdings jederzeit bewusst. Das Sichfortträumen als Fluchtlinie aus der harschen Wirklichkeit ist bei ihm anders als bei „Amélie“ nie eine echte Lösung – oder wenn doch, dann nur mit sehr kurzer Frist.
"Warten auf Bojangles" ist ein manisch-depressiver Film über eine manisch-depressive Protagonistin.
„Wenn die Realität banal und trist ist, erfinden Sie eine schöne Geschichte. Sie lügen zu gut, um es uns vorzuenthalten“, heißt es einmal in „Warten auf Bojangles“. Aber letztendlich wissen alle Protagonist*innen, dass man der Wirklichkeit auf Dauer nicht entkommen kann. Man kann nur tanzen, damit das Leben weitergeht, wie der Held des titelgebenden Songs „Mr. Bojangles“ von Country-Sänger Jerry Jeff Walker. Und wenn jemand stirbt, dann kann man nichts tun, außer fortan an seiner Stelle glücklich zu sein.
Fazit: „Warten auf Bojangles“ ist ein manisch-depressiver Film über eine manisch-depressive Protagonistin. Voller formaler und tonaler Exzesse lotet Regisseur Régis Roinsard ein breites emotionales Spektrum mit extremen Höhen und Tiefen aus. Der Film, der daraus entsteht, ist lustig, traurig, mitreißend, bewegend und zuletzt erschütternd.