Ein berührendes Animations-Märchen über den Holocaust
Von Michael MeynsEin Animationsfilm über den Holocaust? Und das auch noch von Michel Hazanavicius, dem vornehmlich für Komödien bekannten Regisseur der Stummfilm-Hommage „The Artist“, der James-Bond-Parodie „OSS 117“ sowie der Zombie-Komödie „Final Cut Of The Dead“? Kann das wirklich gutgehen? Erstaunlicherweise ja! Auch wenn Hazanavicius bisweilen etwas zu sehr auf die Tränendrüse drückt, gelingt ihm mit „Das kostbarste aller Güter“ ein tief berührender, trotz seines märchenhaften Tons oft auch verstörender Animationsfilm über Nächstenliebe, Vorurteile und die Grauen des Holocaust.
Während des Zweiten Weltkriegs, irgendwo in den polnischen Wäldern, nicht allzu weit von Auschwitz entfernt. Ein armer Holzfäller und seine Frau leben ein karges Leben ohne viel Freude, denn ihr Kind ist schon vor langer Zeit gestorben. Während der Mann froh darüber ist, nicht noch ein Maul stopfen zu müssen, sehnt sich die Frau nach einem neuen Kind – und ihr Wunsch wird erhört: Als aus einem vorbeifahrenden Zug ein Baby geworfen wird, schließt es die Frau sofort ins Herz. Der Mann dagegen braucht länger, bis er sich für das kleine Mädchen erwärmt, denn seine Vorurteile gegenüber der – wie er es nennt – „schmutzigen Rasse der Herzlosen“ sitzen tief…
Eigentlich wollte Michel Hazanavicius, der selbst jüdischer Herkunft ist, nie einen Film über den Holocaust drehen. Dass er es nun doch getan hat, mag auf den ersten Blick irritierend wirken. Schließlich ist Hazanavicius nicht unbedingt für anspruchsvolle Kost bekannt. Erst einmal versuchte sich Hazanavicius bislang an einem ernsten Thema, sein direkt nach „The Artist“ gedrehtes Drama „Die Suche“ spielte während des Tschetschenienkriegs. Aber das Vorhaben ging gründlich daneben, die Reaktionen im Cannes-Wettbewerb waren dermaßen vernichtend, dass der Film in Deutschland nicht mal mehr in die Kinos kam.
Vor ein paar Jahren erschien dann jedoch ein kurzer Roman des 1939 geborenen rumänischen Juden Jean-Claude Grumbert, der Hazanavicius Meinung änderte. Grumbert, der auch schon an etlichen Drehbüchern oft mit Holocaust-Bezug mitgearbeitet hat (etwa an „Die letzte Metro“ oder „Der Stellvertreter“), versteht es in seinem Roman, die Grauen der Judenvernichtung in eine fast schon märchenhafte Form zu bringen. Darin erzählt er zwar einerseits von den Lagern, den Gaskammern und tief sitzendem Antisemitismus, andererseits aber auch von der Kraft des Guten und der Hoffnung, selbst im Schatten der Konzentrationslager.
Mit der klassischen Formel „Es war einmal...“ beginnt dann auch die Geschichte, die lange wie ein Holocaust-Film ohne Holocaust wirkt. Der Zweite Weltkrieg macht den Hauptfiguren das Leben zwar noch schwerer als ohnehin schon. Aber sie leben dort im Wald doch ein wenig außerhalb der Welt, selbst wenn in nicht allzu weiter Ferne die Öfen von Auschwitz Tag für Tag ermordete Juden und Jüdinnen verbrennen. Dass das kleine Baby, das ihnen vor die Füße fällt, jüdisch ist, kümmert die Frau kein bisschen, ihren Mann dafür umso mehr. Er ist von einem tief sitzenden, irrationalen Antisemitismus geprägt und redet von jenen, die Christus ermordeten und kein Herz hätten. Doch nach einiger Zeit erweicht das kleine Kind auch den grobschlächtigen Holzfäller (da er die Nazi-Propaganda von den „herzlosen Juden“ wörtlich begriffen hat, ist er regelrecht erschreckt, dass das Baby trotzdem einen Puls hat).
Das hört sich zwar sehr kitschig an, wirkt durch die strenge Animation, die viel mit verwaschenen Grautönen arbeitet und Farben nur sehr sporadisch einsetzt, aber deutlich ernsthafter. Nur beim Einsatz der Kompositionen von Alexandre Desplat, bislang zweifach Oscar-gekrönt für „Grand Budapest Hotel“ und „The Shape Of Water“, geht es immer wieder mit Hazanavicius durch. Da jaulen die Geigen so laut auf, als hätte Hazanavicius wirklich gar kein Vertrauen in seine Bilder, als wollte er wirklich auch den letzten Zuschauer und die letzte Zuschauerin wissen lassen, dass es jetzt aber wirklich sehr dramatisch wird.
Der übertriebene Musikeinsatz ist umso bedauerlicher, da die sich bald in zwei Teile auffächernde Geschichte sehr wohl auch aus sich selbst heraus berührt. Blieb die Erzählung anfangs nur bei dem Holzfäller-Paar, springt sie schließlich auch in den Zug, aus dem das Baby geworfen wurde. Dort sieht man nicht nur die Eltern des Kindes, sondern auch deren Zwillingsschwester. Unterschiedlicher können die Schicksale der nun getrennten Zwillinge nicht verlaufen. Doch so märchenhaft-simpel und mit Happy End, wie man zwischendurch glauben könnte, verläuft „Das kostbarste aller Güter“ dann doch nicht:
Hauptfiguren sterben, Lebenswege trennen sich, den Folgen des Holocaust lässt sich nur schwer entkommen, selbst wenn man sich eigentlich nur heraushalten will, so wie der arme Holzfäller und die arme Holzfällerin. Ein erstaunlich ernsthafter Film ist Hazanavicius gelungen, zwar kein künstlerisch ambitionierter Holocaust-Film wie zuletzt etwa „The Zone Of Interest“, aber doch eine berührende Geschichte über Nächstenliebe und das Überwinden von Vorurteilen.
Fazit: Man hätte es Michel Hazanavicius nicht unbedingt zugetraut. Doch ausgerechnet dem bislang eher für leichte Muße bekannten Regisseur gelingt mit „Das kostbarste aller Güter“ ein berührender, weitestgehend unsentimentaler Animationsfilm, in dem die Schrecken des Holocaust neben kleinen Funken der Mitmenschlichkeit und der Hoffnung stehen.
Wir haben „Das kostbarste aller Güter“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.