Karl Marx und seine kapitalistischen Vampire
Von Christoph Petersen2017 avancierte Julian Radlmaier mit seinem Uni-Abschlussfilm „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ schnell zu einem DER Geheimtipps der Berlinale. Vier Jahre später hat es sein marxistischer Kostüm-Vampirfilm „Blutsauger“ nun in den auf formal aufregendes Kino spezialisierten Berlinale-Wettbewerb Encounters geschafft. Aber selbst wenn das Budget spürbar gewachsen, die Schauspieler namhafter und die angeschnittenen Genres gänzlich andere sind, ist der diskursive Antrieb doch derselbe geblieben: „Was ist denn jetzt mit dem Kommunismus?“
In seiner Meta-Satire „Selbstkritik“, in der Julian Radlmaier einen Filmemacher namens Julian spielt, der vor allem deshalb aktivistischer Kommunist sein will, um bei einer hübschen Kanadierin bessere Chancen zu haben, stellt sich der Regisseur diese Frage noch selbst. In „Blutsauger“ verhandelt sie hingegen ein zwischen Ostseedünen tagender Lesekreis, der gerade dabei ist, die Blutsauger-Metaphern in „Das Kapital“ zu analysieren. Meint Karl Marx ernsthaft, dass die Kapitalisten in Wahrheit Vampire seien? Die Idee wird im Lesekreis schnell wieder verworfen. Julian Radlmaier sieht das freilich anders und nimmt Karl Marx für seine verspielt-formalistische Fabel einfach mal beim Wort.
Großfabrikantin Miss Flambow-Jensen und ihr "Personal Assistant" Jacob.
Auch wenn der Lesekreis ziemlich heutig wirkt und die lokale Großfabrikantin Miss Flambow-Jensen (Lilith Stangenberg) ein modernes Kawasaki-Motorrad fährt, so schreiben wir doch das Jahr 1928: Der Fabrikarbeiter Lyovuschka (Alexandre Koberidze) wurde von niemand geringerem als Sergei Eisenstein in seinem neuen Film besetzt – dummerweise allerdings als Leo Trotzki, der bei Stalin & Co. noch vor Kinostart in Ungnade fiel. So wurde die Rolle komplett aus dem Film geschnitten – und Lyovuschka hielt es wohl zu Recht für das Beste, das Land möglichst schnell zu verlassen.
Gegenüber Flambow-Jensen gibt er sich in ihrem luxuriösen Ostseedomizil allerdings als sowjetischer Baron aus – und wird daraufhin sofort in ihren erlauchten Kreis aufgenommen. Während sich zwischen dem falschen Baron und der schlagfertigen Millionenerbin eine zarte Liebschaft entspinnt, erwachen die Bauer und Arbeiter der Umgebung immer wieder mit verdächtigen Bisswunden am Hals, die der Bürgermeister Dr. Humburg (Andreas Döhler) mit einer Plage chinesischer Flöhe erklärt…
Zu der Zeit, in der „Blutsauger“ spielt, begannen sich die Klassengrenzen langsam zu verwischen. Heute hingegen ist das alles ohnehin nur noch ein totales Chaos, weshalb das mit der Auflehnung womöglich noch gegen die Beschränkungen durch Corona, aber nicht mehr gegen die Macht des Kapitals gelingt. „Blutsauger“ ist trotz seines durch Anachronismen aufgebrochenen historischen Settings auch deshalb ein sehr gegenwärtiger Film, weil hier ebenfalls alles ziemlich chaotisch wirkt. „Blutsauger“ ist bis obenhin vollgestopft mit Einfällen über Einfällen – einige führen womöglich sogar irgendwohin, andere sind mal clevere, mal alberne Unterhaltung.
Besonders gelungen ist etwa das Verhältnis der sich progressiv gebenden Jungfabrikantin zu ihrem Butler Jacob (Alexander Herbst), den sie aber nicht mehr als solchen bezeichnet, sondern ihren „persönlichen Assistenten“ nennt und der sie sogar duzen darf. Jacob selbst ist hingegen völlig verwirrt – nicht nur, weil er nicht versteht, ob er denn jetzt noch zum Proletariat gehört (und damit wahrscheinlich bald ebenfalls den chinesischen Flöhen zum Opfer fallen wird), sondern auch, weil er total in seine für ihn unerreichbare Chefin verschossen ist.
An der Ostsee gehen die (chinesischen) Vampire um.
Seine einzige Hoffnung besteht aktuell darin, dass ihr die alte Volksweisheit „Dumm fickt gut!“ schon mal untergekommen ist. Zudem fasst er einen Plan, der den vermutlich schönsten Ausspruch des Kinojahres mit sich bringt – er hat nämlich das Proust-Buch von ihrem Nachttisch gelesen, und darin geht es sehr viel um Betten und wie man darin schläft. Also wird er selbst jetzt auch einfach alles aufschreiben, was ihm durch den Kopf geht, denn seine umwerfende Logik lautet:
„Wenn man also müde ist, dann muss man es nur aufschreiben, dann ist man kein Einfaltspinsel mehr, sondern ein Literat.“
„Blutsauger“ ist voll von solchen Bonmots. Ebenso wie von entlarvenden Kommentaren zu Meinungsmanipulationen — von den „chinesischen Flöhen“ zu Donald Trumps „chinesischer Grippe“ ist es ja nicht so weit — sowie unverhohlen-mitreißenden Liebesklärungen an die Kraft des Films, von der hohen Kunst Eisensteins bis zum Amateur-Dreh eines Ostsee-„Nosferatu“.
Die eigentliche Erzählung, was es denn nun mit den vermeintlichen oder realen Vampiren auf sich hat, nimmt zwischen all den kleinen Ideen allerdings kaum an Fahrt auf – was sich gegen Ende schon ein wenig rächt, wenn die Abstände zwischen den gelungenen Einfällen allmählich größer werden.
Fazit: Ein marxistisches Kostüm-Lustspiel, das vor kreativen Einfällen nur so strotzt, dem in der zweiten Hälfte aber auch ein wenig die diskursive Puste auszugehen droht.
Wir haben „Blutsauger“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo der Film in den Wettbewerb der Sektion Encounters eingeladen wurde.