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    Die Kinder der Utopie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Kinder der Utopie

    Wie "Boyhood", nur in echt

    Von Thomas Lassonczyk

    Vor einigen Jahren war das Wort Inklusion nur einer Minderheit in unserer Bevölkerung ein Begriff. Wer sich aber heutzutage an bildungspolitischen Diskussionen beteiligt, der weiß inzwischen sehr wohl, dass sich dahinter das Modell verbirgt, Menschen mit und ohne Behinderung im Schulalltag zusammenzubringen und gemeinsam zu unterrichten. Dabei nahm die Fläming-Grundschule in Berlin-Friedenau eine Art Vorreiterrolle ein, denn sie war die erste Schule in der Bundesrepublik, die Kinder mit Behinderung in ihren Klassen integrierte. Das war 1975. Ziemlich genau drei Jahrzehnte später drehte Hubertus Siegert an eben dieser Einrichtung die Kino-Dokumentation „KlassenLeben“. Dabei beobachtete er den Alltag von elfjährigen Schülern sowie deren Eltern und Lehrer und kam zu dem Schluss, dass integrativer Unterricht für Hochbegabte und Schwerstbehinderte für beide Gruppen von Vorteil sein kann und gegenseitigen Respekt und Akzeptanz fördert.

    Weitere zwölf Jahre später (übrigens derselbe zeitliche Bogen wie in Richard Linklaters „Boyhood“) hat Hubertus Siegert, der zwischenzeitlich die mehrfach ausgezeichnete Dokumentation „Beyond Punishment“ (2015) realisiert hat, nun sechs der damaligen Schüler aus „Klassenleben“, inzwischen junge Erwachsene, noch einmal besucht und aus diesen Begegnungen das Doku-Sequel „Die Kinder der Utopie“ gemacht. Einen Film, der weniger durch seine handwerkliche Qualität besticht als vielmehr durch seine Protagonisten und deren natürliches, ehrliches und offenes Verhalten vor der Kamera.

    Die sechs Kinder der Utopie...

    Strukturell bedient sich Siegert der so genannten Reigen-Dramaturgie, die man aus fiktionalen Werken wie Robert Altmans „Short Cuts“ kennt. Das heißt: Eine Person trifft eine andere, danach verabredet sich die andere mit einer dritten, die dann wieder eine vierte besucht usw. Dadurch entsteht nicht nur eine besonders flüssige Form der Erzählung, man spart sich auch Off-Kommentare, weil die jeweiligen Protagonisten sich die Fragen und Antworten im ON selbst geben können.

    „Die Kinder der Utopie“ beginnt mit Luca, die mittlerweile in der Hobby-Fotografie ihre Erfüllung gefunden hat und Umweltwissenschaften studiert. Dennis, der bei Luca vorbeischaut, war mit ihr noch im Landesjugendchor. Er hat es inzwischen als preisgekrönter Musical-Schauspieler zu einigem Ruhm gebracht. Und während Christian, der nach seinem abgebrochenen VWL-Studium nun auf das Fach Psychologie umgesattelt hat, arbeitet Marvin in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, leidet aber unter der schlechten Bezahlung. Und schließlich sind da noch Johanna, die sich zur Altenpflegerin ausbilden ließ, und Natalie, die nach einem Praktikum in einer Schulküche inzwischen in der Kantine des Rathauses Schöneberg gelandet ist.

    ... jeweils heute und damals vor zwölf Jahren.

    Der berufliche Werdegang der sechs ehemaligen Schulkameraden ist jedoch nur ein Aspekt unter vielen, den Siegert, Autor, Regisseur und Produzent in Personalunion, in seinem Dokumentarfilm herausgreift. So erfährt man sehr viel über die Charaktereigenschaften der Sechs, etwa dass Dennis vorlaut und sehr selbstbewusst ist, Christian, der sich Kritik sehr zu Herzen nimmt, eher sensibel rüberkommt, oder Natalie, bei der schnell einmal ein paar Tränen fließen, schüchtern ist. Indem Siegert immer wieder Material aus dem ersten Film „Klassenleben“ dazwischen schneidet, kann der Betrachter gut erkennen, wie sich die jungen Erwachsenen entwickelt, verändert oder eben auch nicht verändert haben.

    „Die Kinder der Utopie“ ist immer nah dran an den Protagonisten, das geht manchmal auf Kosten einer perfekt ausgeleuchteten Interviewsituation und auch die Aussagen sind aufgrund mangelnder Tonqualität nicht immer verständlich. Doch hier geht es nicht um die Schönheit der Bilder und das fein geschliffene Wort, sondern um die Menschen, die vor der Kamera agieren. Und diese zeichnen sich nicht nur durch ein Höchstmaß an Authentizität und Glaubwürdigkeit aus, sie brechen auch eine Lanze für Inklusion, unter anderem mit Aussagen wie „Ich hoffe, dass dieses System weltweit und flächendeckend übernommen wird“, „Ich bin so dankbar für meine Grundschulzeit“ oder „Inklusion ist für mich eine Selbstverständlichkeit“. Es versteht sich fast von selbst, dass ein ungewöhnlicher Film über ein Thema, das in unserer Gesellschaft nach wie vor stiefmütterlich behandelt wird, auch eines unkonventionellen Kinoauftritts bedarf. Deshalb soll „Die Kinder der Utopie“ an einem einzigen Aktionsabend am 15. Mai 2019 bundesweit in möglichst vielen Kinos gezeigt.

    Fazit: Bewegende Dokumentation über ehemalige Schüler einer Inklusionsklasse, die zwar technische Mängel in Bild und Ton aufweist, was aber durch die grundehrlichen und natürlichen Aussagen der jungen Erwachsenen mehr als wettgemacht wird.

    Wir haben „Die Kinder der Utopie“ im Rahmen des DOK.fest München gesehen.

     

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