Eine episch erzählte Medienposse
Von Jochen WernerManchmal sind die Dinge der Politik eigentlich die Dinge des Herzens. Es ist Sommer in Budapest und der Schüler Abel (Adonyi-Walsh Gáspár) steht kurz vor seinen Abschlussprüfungen. Von seinen Eltern wird er immer wieder eindringlich zum gründlichen Lernen aufgefordert, da man heute ohne höheren Schulabschluss in Ungarn gar nichts mehr erreichen könne. Und tatsächlich hat Abel die meisten Fächer recht gut im Griff – nur von Geschichte weiß er so gut wie nichts, und aufs Lernen kann er sich gerade leider gar nicht konzentrieren. Denn, so erfahren wir aus dem Zwischentitel des ersten Kapitels dieses durchaus episch angelegten Films: am Montag begreift Abel, dass er verliebt ist.
Seine Mitschülerin Janka (Lilla Kizlinger) will von ihrem Schulfreund jedoch in romantischer Hinsicht überhaupt nichts wissen und macht stattdessen ausgerechnet dem verheirateten Geschichtslehrer Jakab (András Rusznák) eine ungelenke Liebeserklärung. Diesen Protagonisten, sowie noch einer ganzen Reihe weiterer Nebenfiguren, folgen wir nun eine ganze Weile durch ihren Alltag, lernen ihre Leben und ihre politischen Überzeugungen kennen, bevor das Drehbuch von Gábor Reisz dann spät seine Karten auf den Tisch legt und seinen eigentlichen zentralen Konflikt offenbart.
Zunächst aber erfahren wir einiges über die politischen Trennlinien, die sich durch die ungarische Gesellschaft ziehen. So ist etwa Abels Vater György (István Znamenák) Anhänger des Präsidenten Viktor Orbán und seiner nationalkonservativen Fidesz-Partei. Über diese politischen Differenzen ist er bei einem vergangenen Elternabend heftig mit dem liberalen Jakab aneinandergeraten. Der wiederum leidet an den Verhältnissen unter der rechten Regierung und filmt in seiner Freizeit Interviews mit den Überlebenden des antisowjetischen Volksaufstands von 1956 für einen Dokumentarfilm, der nie fertig wird. So richtig gut funktioniert das allerdings auch nicht, da er in den Gesprächen auch gern einmal versucht, den Veteranen seine eigene Sicht auf das Geschehen fast wörtlich zu soufflieren.
Die zentrale Eskalation im Plot von „Eine Erklärung für Alles“ beginnt hingegen in einem ganz beiläufigen Augenblick. Als er zur Abiturprüfung erscheint, trägt Abel eine patriotische Anstecknadel an seiner Jacke. Die wird überall zum Nationalfeiertag getragen, und dient den Rest des Jahres über als Erkennungszeichen der nationalistischen Fidesz-Anhänger – quasi das ungarische Pendant zur „MAGA“-Kappe. Abel hat schlicht vergessen, sie vor der Prüfung abzunehmen, wird dann jedoch von Jakab darauf angesprochen. Warum er sie trage, will dieser wissen – seiner eigenen, späteren Aussage nach eine lediglich verwunderte und nicht politisch aufgeladene Frage. Aber gibt es in diesem polarisierten gesellschaftlichen Klima überhaupt etwas, das nicht politisch aufgeladen ist?
Abel jedenfalls bleibt stumm während der Prüfung. Ob er die Antworten eigentlich kennt oder nicht, ob er aus Protest, und wenn ja, gegen wen oder was genau, schweigt, bleibt offen – jedenfalls fällt er, trotz guter Noten in allen anderen Fächern, durch. Ein Ausnahmefall, etwas, das, wie wir erfahren, nur alle paar Jahre einmal passiert in diesen Prüfungen. Ob man den Jungen nicht seiner Komplettverweigerung zum Trotz einfach bestehen lassen könne, wird im Kollegium sogar diskutiert – sein Fall ist im System schlichtweg nicht vorgesehen.
Eine Eigendynamik entwickelt sich dann, als Abel seinem Vater von dem Zwischenfall bezüglich der Anstecknadel erzählt. Jakab habe ihn lediglich durchfallen lassen, weil ihn die Nadel als Sohn eines „dummen Fidesz-Wählers“ identifiziert habe, so behauptet Abel. Und diese Geschichte macht sich dann selbstständig: György erzählt sie seinem Arzt, der erzählt sie seinem Taxifahrer, und schließlich bekommt sie die junge Journalistin Erika (Rebeka Hatházi) zu Gehör, die daraus eine große Titelgeschichte für eine rechtsgerichtete Tageszeitung strickt. Patriotischer junger Mann von verkommenem liberalem Lehrer schikaniert – so eine Geschichte halt, wie sie immer und überall Wasser auf die Mühlen empörungsbereiter Massen ist.
Auch der Fidesz-Regierung kommt es hier jedoch durchaus zupass, den liberalen Kräften im Schulsystem einen mitzugeben, und so wird kräftig Druck ausgeübt auf den Rektor und auf Jakab. Abels Prüfung wird annulliert, und vor den Augen der Presse soll dieser erneut geprüft werden. Es gebe nichts, mit dem man in diesem Land nicht durchkäme, so klagt der vor Wut kochende Jakab. Aber kann und will Abel seine Lüge wirklich bis zuletzt aufrechterhalten – gerade, wenn ihn auch Janka dafür zur Rede stellt? Und warum eigentlich hat er wirklich geschwiegen? Gibt es denn einen Grund dafür, eine Erklärung für alles? Oder ist nicht doch alles immer komplizierter – ein unüberschaubares Netz von ausgesprochenen und unausgesprochenen Motiven, die wir vielleicht selbst nicht immer kennen?
„Eine Erklärung für Alles“ ist ein schöner Film, gerade weil manches in ihm bis zuletzt ein wenig vage, ein wenig ungreifbar bleibt. Er ist, auch wenn man das anhand seines Grundkonflikts durchaus vermuten könnte, kein Film, der eine simple politische Bruchlinie zieht, diese dann durchbuchstabiert und die Protagonist*innen in Gut und Böse aufteilt. Eher ist es so, dass, um mit Jean Renoirs Meisterwerk „Die Spielregel“ zu sprechen, darin jeder immer seine Gründe hat. György ist kein hetzender Faschist, sondern verzweifelt auf seine Weise ebenfalls am gegenwärtigen Ungarn und versucht, die Dinge vor Ort am Laufen zu halten. Als sein Angestellter ihm eröffnet, aufgrund der Verhältnisse vor Ort und des wachsenden Hasses allüberall nach Dänemark auswandern zu wollen, hat er hierfür nur Kritik übrig – wer bliebe schließlich noch übrig, um die Zustände zu verbessern, wenn alle gingen?
Und Jakab trägt im Gegenteil nicht automatisch eine weiße Weste, weil er als liberaler Orbán-Gegner porträtiert wird. Stattdessen ist auch er vor allem ein Mensch, mit seinen eigenen Widersprüchlichkeiten, Narzissmen, Unzulänglichkeiten. Vielleicht skizziert „Eine Erklärung für Alles“ vor allem die Perfidie eines Systems, das sich aus dem fortwährenden Vertiefen dieser Spaltungen zwischen Menschen nährt, die prinzipiell jeweils das Beste wollen und jeder für sich überhaupt nicht auf die Idee kämen, sie könnten Teil eines gesellschaftspolitisch Falschen sein.
Natürlich funktionieren populistische, autoritäre Regierungen genau so, über das fortwährende Schüren dieser Spaltung und dieser Einteilung in Gut und Böse – auch um den Preis der Wahrheit, das stellt Gábor Reisz‘ Film unmissverständlich klar. Und somit läuft dann auch der gelegentlich bereits gegen den Film vorgebrachte Vorwurf ins Leere, dass ein gewisser politischer Relativismus den Positionen von Orbán und Fidesz schlussendlich das Wort rede. Vielmehr ist es so, dass „Eine Erklärung für Alles“ den Gründen nachspürt, warum Menschen zu teils diametral unterschiedlichen politischen Überzeugungen kommen. Statt diese Menschen von vornherein zu dämonisieren, geht es um ein System, das davon zehrt, ihren Hass aufeinander zu schüren. Ebendies legt „Eine Erklärung für Alles“ schonungslos offen – das System Orbán. Und wer diesen Unterschied nicht begreift, der läuft Gefahr, solchen Strategien selbst zum Opfer zu fallen.
Fazit: Ein episch ausgebreiteter, kluger Film, der anhand seiner multiperspektivischen Erzählung einen Medienskandal im kontemporären Ungarn der nationalkonservativen Orbán-Regierung erzählt – und zwar derart komplex aufgefächert, dass es ihm gelingt, die Perfidien des Systems offenzulegen, ohne seine Protagonisten zu dämonisieren. Und was klingt wie ein schwerer Stoff, kommt dann auch noch überraschend leichtfüßig inszeniert daher – beinahe ein Sommerfilm!
Wir haben „Eine Erklärung für Alles“ im Rahmen des 19. Around the World in 14 Films Festival gesehen.