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    Lieber Thomas
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Lieber Thomas

    Ein Pop-Rebell, dessen Wiederentdeckung längst überfällig ist

    Von Michael Meyns

    Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“, lautet eines der bekanntesten Zitate von Thomas Brasch, dem Dichter, Filmemacher, Kokser, Frauenschwarm, nicht unbedingt immer in dieser Reihenfolge. Durch den 2018 veröffentlichten Dokumentarfilm „Familie Brasch“ erfuhr der 1945 geborene Brasch ein kleines Revival, das nun durch Andreas Kleinerts biographischen Film „Lieber Thomas“ noch einmal gehörig an Fahrt gewinnen dürfte. Es gibt ja auch einfach eine Menge wieder oder gar neu zu entdecken bei einer der komplexesten und ambivalentesten Figuren des deutschen Kulturbetriebs, die die Kulturszene erst in Ost- und dann in West-Berlin aufmischte, aber nach der Wende trotzdem fast vollständig in Vergessenheit geriet. Das er 2001 viel zu jung mit und vielleicht auch an einem Loch im Herzen starb, ist nur eines von vielen Dingen in Braschs Leben, die eigentlich zu perfekt passen, um wahr zu sein.

    Als Sohn eines hohen Funktionärs in Ostdeutschland wuchs Thomas Brasch (als Kind: Claudio Magno) wohlbehütet auf. Aber der Friede währte nicht lang. Fraglos auch um sich vom Vater Horst (Jörg Schüttauf) zu emanzipieren, wurde Thomas Brasch (nun Albrecht Schuch) zum Schriftsteller und Rebell. Von den Frauen geliebt und von den Männern bewundert wurde er 1976 quasi aus der DDR „rausgeschmissen“ (auch wenn er offiziell selbst einen Ausreiseantrag gestellt hat). In den Westen ging er mit seiner großen Liebe Katarina (Jella Haase), für die er in West-Berlin Stücke schrieb. In den 1980ern drehte er Filme wie „Engel aus Eisen“, der sogar in Cannes lief, wurde aber auch zum manischen Kokser, der sich in einem Mammutroman verlor, der zum Zeitpunkt seines Todes bereits zehntausende Seiten umfasste und trotzdem nicht vollendet wurde…

    Dem aus der DDR geschmissenen Literaten liegen auch im Westen die Frauen zu Füßen...

    Ein paar Tage nach seiner Ausweisung aus der DDR gab Thomas Brasch dem Spiegel ein Interview, in dem er betonte: „Ich stehe für niemanden als mich selbst.“ Eigentlich eine klare Aussage, doch die Umsetzen fiel zunehmend schwer. Wie Brasch kämpfte, mit sich und seinem Talent, vor allem aber dem Wunsch, nicht das sein zu wollen, was andere in ihm sahen und von ihm erwarteten, ist nun der rote Faden für den Film von Andreas Kleinert. Weitestgehend linear arbeitet sich der Regisseur am Leben des Dichters ab, zeigt ihn als Kind, der in der Kadettenschule der Nationalen Volksarmee kaserniert war, der als Sohn eines hohen Funktionärs ein privilegiertes Leben führte, gegen das er bald rebellierte.

    Nach Protesten gegen den Einmarsch der Roten Armee in der Tschechoslowakei landete er im Gefängnis, verraten vom eigenen Vater. In der DDR veröffentlicht zu werden, war damit so gut wie unmöglich, als im Westen ein Gedichtband von ihm erschien, wies der Staat ihn und seine Freundin Katharina Thalbach (die im Film nur minimal anonymisiert Katarina ohne „h“ heißt) kurzerhand aus. Doch das ihn der Westen als Dissident und Regimekritiker vereinnahmen wollte, ließ Brasch nicht zu, wies vielmehr darauf hin, dass er als Dichter nur von einem System mit Restriktionen in eins mit anderen Einschränkungen gewechselt war. Legendär sein Auftritt beim Empfang des bayerischen Filmpreis 1981, als er in München vor den versammelten CSU-Granden inklusive dem Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß seiner Ausbildungsstätte dankte: Der Filmhochschule der DDR.

    Der aktuell aufregendste deutsche Schauspieler

    So komplex und ambivalent ist Thomas Brasch, dass er kaum fassbar bleibt, dass auch ein fast zweieinhalb Stunden langer Film kaum mehr als eine Annäherung sein kann. Angesichts der episodischen Form ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder Momente gibt, in denen „Lieber Thomas“ in eine aufzählende „und dann, und dann, und dann…“ Struktur verfällt. Aber dann gibt es eben auch wieder Momente von solch filmischen Wucht, dass man sich an Kirill Serebrennikovs grandiose Künstlerbiographie „Leto“ erinnert fühlt, von der man durchaus vermuten darf, dass sie auch für Kleinert Vorbild war: „Lieber Thomas“ ist ebenso im Breitwandformat und in schwarz-weiß gedreht, ist fantastisch ausgestattet und in einem Maße großes Kino, wie es in Deutschland nicht oft gelingt. Und dann ist da noch der Hauptdarsteller Albrecht Schuch, der momentan vermutlich aufregendste deutsche Schauspieler.

    Vergangenes Jahr wurde Schuch gleich mit zwei Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet, als Hauptdarsteller in „Berlin Alexanderplatz“ und für seine Nebenrolle in „Systemsprenger“. Dieses Jahr brillierte er bereits in Dominik Grafs wunderbarer Kästner-Verfilmung „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ – und nun also auch noch der Part als Brasch. Von enormer Energie getrieben und Selbstzweifeln geplagt reproduziert Schuch die legendäre Anziehungskraft des Künstlers, die ihm die Aufmerksamkeit schier endloser Reihen von Frauen sicherte. Aber mehr noch als dem anderen Geschlecht (und natürlich dem Koks!) war Brasch seiner Kunst verfallen. Zunehmend manischen agiert dieser Brasch, droht an seinen eigenen Ansprüchen zu verzweifeln, wenn er etwa den Moment seines größten Erfolgs, nämlich der Premiere seines Films in Cannes, auf dem Flur verbringt, mit der Wahnvorstellung seines Vaters ringend.

    Der Westen heißt den DDR-Literaten gebührend willkommen - aber der lässt sich nicht so leicht für den Systemkampf vereinnahmen.

    Wer wollte Brasch sein? Vielleicht wusste er es in den letzten Jahren seines Lebens selbst nicht mehr – und vielleicht hinderte ihn genau das, sein finales episches Werk nach dem Flop seines dritten Spielfilms „Der Passagier – Welcome To Germany“ sowie dem Mauerfall, der es ihm ermöglichte, wieder in Ost-Berlin zu leben, noch zu vollenden. Zunehmend zurückgezogen lebte Brasch in einer Wohnung neben dem Berliner Ensemble, hörte immer wieder Miles Davis legendär melancholisches „Sketches Of Spain“, wie man es in Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „Familie Brasch“ erzählt.

    Begraben ist er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, unweit von Größen der deutschen Kultur wie Friedrich Hegel, Bertolt Brecht oder Harun Farocki. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, Thomas Brasch wiederzuentdecken, nicht nur als Autor und Regisseur, sondern als kritischer und vor allem selbstkritischer Intellektueller, der über sich und seine Rolle im System in einem Maße nachdachte, wie es vielen zeitgenössischen Künstlern wohl gut zu Gesicht stehen würde. Andreas Kleinerts „Lieber Thomas“ nähert sich seinem Subjekt, umkreist es, aber versucht nicht, ihn endgültig zu erklären. Klare Antworten: Das wäre wohl das letzte, was man bei einem Film über Thomas Brasch erwarten sollte…

    Fazit: Zusammen mit dem großartigen Albrecht Schuch in der Titelrolle nähert sich Andreas Kleinert in „Lieber Thomas“ einem komplexen, komplizierten deutschen Künstler, der lange in Vergessenheit geraten war, aber – vielleicht auch mit dem Film als Anstoß – unbedingt wiederentdeckt werden sollte.

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