Düstere Tage am romantischsten Ort der Welt
Von Oliver KubeDie Niagarafälle, bestehend aus den „Canadian Horseshoe Falls“, „American Falls“ und „Bridal Veil Falls“, sind zwar weder die höchsten noch die breitesten, dafür aber die bekanntesten Wasserfälle der Welt. Auch wenn das einzigartige Areal zwischen Kanada und den USA erstaunlicherweise bis heute nicht den Status eines UNESCO-Welterbes innehat, zählt es zu den beliebtesten Touristenattraktionen Nordamerikas. Das faszinierende Naturspektakel wird nicht nur immer wieder gern als Flitterwochenziel auserkoren, sondern diente auch schon mehrfach als Filmkulisse: zum Beispiel in Henry Hathaways Film-Noir-Klassiker „Niagara“ von 1953, mit dem Marilyn Monroe einst der Durchbruch zum Leinwand-Star gelang.
In „Superman II - Allein gegen alle“ posen Lois und Clark vor den tosenden Wassermassen, während es in „Tödliche Umarmung“, dem Debüt von „Das Schweigen der Lämmer“-Regisseur Jonathan Demme, an den Niagarafällen zu einem großen Showdown kommt. Regisseur und Drehbuchautor Albert Shin hat sein düster-atmosphärisches, von Täuschungen, Intrigen und Geheimnissen unterfüttertes Krimi-Drama „Disappearance At Clifton Hill“ nun ebenfalls im Umfeld der Fälle angesiedelt. Der Filmemacher, dessen „In Her Place“ für den kanadischen Oscar nominiert war, wird damit diesmal zwar eher keine großen Preise gewinnen; ein unterhaltsamer und über weite Strecken origineller Whodunit mit einem gewissen „Chinatown“-Vibe ist ihm aber allemal gelungen.
Abby sucht die Wahrheit.
Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Abby (Tuppence Middleton) in das an den Niagarafällen gelegene Städtchen Clifton Hill zurück, wo sie unweigerlich an ein traumatisches Ereignis aus ihrer Kindheit erinnert wird: Als Siebenjährige hat sie gesehen, wie ein nur wenig älterer, von Verletzungen gezeichneter Junge von einem Mann und einer Frau in den Kofferraum eines anschließend davonrasenden Autors verfrachtet wurde. Weil Abby aber schon damals einen Hang zu kleinen und großen Lügengeschichten hatten, glaubten ihre Eltern und ihre Schwester Laure (Hannah Gross) dem Mädchen kein Wort.
Da die örtliche Polizei auch heute kein Interesse daran zeigt, in der Angelegenheit des (angeblich) verschleppten Jungen zu ermitteln, nimmt Abby die Sache mithilfe des kauzigen Lokalhistorikers und Podcasters Walter Bell (David Cronenberg) selbst in die Hand – obwohl sie neben der Trauer um ihre Mutter eigentlich auch noch ganz andere Sorgen hat. Denn der die Gegend mit seinem Geld regierende, verdächtig charmante Casino-Betreiber Charlie Lake III (Eric Johnson) versucht sie beim Verkauf des elterlichen Motels scheinbar über den Tisch zu ziehen…
Der 1994 an einem Stausee spielende Prolog ist nicht nur spannend und atmosphärisch erzählt, er sticht mit seiner analogen Retro-Optik auch visuell heraus. Nach einem Zeitsprung lernen wir dann die ziemlich eigenwillige Erwachsenen-Version der jungen Entführungszeugin kennen: Die von „Sense8“-Star Tuppence Middleton durchaus sympathisch gespielte, aber zugleich auch mit einer unnahbaren und mysteriösen Aura versehenen Protagonistin kehrt an den See zurück, um ihre Erinnerungen an das Verbrechen von damals aufzufrischen.
Dort trifft sie auch gleich auf ihren zukünftigen Ermittlungspartner Walter, der (wie sonst nur James Bond) plötzlich in einem Vollkörper-Taucheranzug aus dem See hervorkommt – auf unnachahmliche Weise verkörpert von Regie-Legende David Cronenberg („Videodrome“). Dessen exzentrische, wilde Verschwörungstheorien spinnende und in einem Schnellrestaurant mit UFO-Thema arbeitende Figur kommt wie der schräge Onkel von „Akte X“-Agent Fox Mulder daher. Cronenberg ist es, der immer wieder für leichte und amüsante Momente im sonst über weite Strecken eher düsteren, ansatzweise gar (absichtlich!) verwirrenden Geschehen sorgt.
David Cronenberg im Taucheranzug.
Das Gespann Abby/Walter harmoniert auch deshalb so gut, weil das Publikum beiden Charakteren beziehungsweise ihren Absichten und Taten nicht wirklich trauen kann: ihm, weil er ein zwar offensichtlich intelligenter Mann, aber auch ein herrlich paranoider Spinner ist; ihr, weil sie es – Stichwort: „Ich bin noch Jungfrau!“ – mit der Wahrheit offensichtlich alles andere als ernst nimmt. Ob diese Marotte bei ihr zwanghaft oder aus Langeweile heraus geboren ist, macht das Skript klugerweise nie ganz klar. Durch diesen Kniff des Drehbuchs von Regisseur Shin und seinem Co-Autor James Schultz bleibt die Suche nach den Hintergründen der sich zunehmend ausweitenden Verwicklungen bis zum Schluss spannend.
Schon die eröffnende Flashback-Sequenz begeistert dazu mit einem für das musikalische Genre verhältnismäßig sanftem, aber intensivem Free-Jazz-Score. Die auch im weiteren Verlauf offenbar größtenteils improvisierten Stücke stammen von Alexander Sowinski und Leland Whitty, bekannt als Mitglieder der Instrumental-Band BadBadNotGood aus Toronto. Ihre knarzigen, bisweilen dissonanten Klänge mögen in diesem Rahmen zunächst ungewöhnlich erscheinen. Doch schnell wird klar, dass sie die dunkle, oft unsicher anmutende Stimmung der Bilder und Abbys Gedanken sehr wirksam illustrieren. Dabei drängt sich der Soundtrack nie auf oder überlagert gar die oft sparsam eingesetzten Dialoge.
Ein wichtiger Faktor für den Film ist zudem das Konzept, den für viele Menschen romantischsten Ort der Welt als eine Art Boulevard der zerbrochenen Träume zu präsentieren, was von Kamerafrau Catherine Lutes („Mountain Men“) mit betont nüchtern-glanzlosen Aufnahmen visuell kraftvoll umgesetzt wird. So ist der Zuschauer auch eher willens, über die eine oder andere tonale Unstimmigkeit und einige konstruiert daherkommende Situationen und Wendungen hinwegzusehen. Vor allem der finale Twist wirkt am Ende leider etwas unmotiviert angehängt. Trotzdem kann man sich von der Bildatmosphäre und den engagiert auftretenden, gelegentlich mit Wonne über die Stränge schlagenden Nebendarstellern (darunter Paulino Nunes und Marie-Josée Croze als schrilles Zauberkünstler-Ehepaar) prima unterhalten lassen.
Fazit: Ein stimmungsvoll umgesetztes Noir-Krimi-Drama, das die Trostlosigkeit in den Schatten der Niagarafälle offenlegt und trotz einiger Ungereimtheiten zum Mitraten einlädt.
Wir haben „Disappearance At Clifton Hill“ auf den Fantasy Filmfest White Nights gesehen.