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    Der Junge und die Wildgänse
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Junge und die Wildgänse

    Ein moderner Nils Holgersson

    Von Oliver Kube

    Jeden Herbst machen sich in Nord- und Mitteleuropa Abermillionen von Zugvögeln auf ihren Weg in Richtung Süden. Allerdings werden es seit Jahren immer weniger Tiere, die im Frühling dann auch zu uns zurückkehren. Der Grund dafür sind hauptsächlich wir – die Menschen. Denn die Zahl der tödlichen Gefahren für das reisefreudige Federvieh steigt kontinuierlich. Neben dem Klimawandel und anderen Umweltkatastrophen sowie professionellen Vogeljägern macht vor allem die fortschreitende Urbanisierung mit stark frequentierten Flughäfen, hohen Schornsteinen und Windkraftanlagen die traditionellen Flugrouten zu Todesfallen.

    Da der Mensch keine Rücksicht nimmt, müssen die Vögel lernen, ihm auszuweichen. Nur wie? „Belle & Sebastian“-Regisseur Nicolas Vanier zeigt in „Der Junge und die Wildgänse“, einem ebenso unterhaltsamen wie berührenden Mix aus Familien-Dramedy, Abenteuerfilm und Coming-of-Age-Roadmovie, eine zwar eigenwillige, aber erwiesenermaßen funktionierende Idee, um den Vögeln die nötige Hilfestellung zu bieten.

    Erst gibt es Schwimmunterricht ...

    Endlich Ferien! Der 13-jährige Thomas (Louis Vazquez) freut sich darauf, ausgiebig Computerspiele zocken zu können. Aber dann beschließt seine geschiedene Mutter Paola (Mélanie Doutey), mit ihrem neuen Lebensgefährten in den Urlaub zu fahren. Das bedeutet: Thomas muss Paris verlassen und zu seinem schrulligen Vater Christian (Jean-Paul Rouve) in die provinzielle Camargue reisen. Nicht nur gibt es dort weder W-LAN noch andere Jugendliche – Papa ist auch noch ein Naturschutzaktivist, mit dessen Faszination für die lokale Fauna und Flora der Junge allerdings überhaupt nichts anfangen kann.

    Doch Christian erklärt ihm sein neues Projekt: Eine vom Aussterben bedrohte Wildgans-Art soll gerettet werden, indem er frisch geschlüpfte Küken großzieht und ihnen später eine neue, weniger gefährliche Route für ihren jährlichen Zug von Norwegen nach Südfrankreich und zurück beibringen will. Bevor er sich versieht, steckt Thomas in einem ebenso grotesken Gänsekostüm wie sein Vater und ist Feuer und Flamme für die Tierchen. Das ist auch gut so, denn durch die Verkettung einiger unglücklicher Umstände wird nicht Christian, sondern er in einem Ultraleichtflugzeug den so wichtigen, ersten Trip an der Seite der Jungvögel durchführen müssen...

    Auf den Spuren von Nils Holgersson

    Überraschenderweise handelt es sich bei „Der Junge und die Wildgänse“ nicht um eine Romanverfilmung. Dabei hat das Ganze durchaus die emotionale Aura eines großen Jugendbuch-Klassikers, der Generationen von Kids (und ihre Eltern) inspirieren könnte. Stattdessen basiert der Film auf dem Sachbuch „Mit den wilden Gänsen fliegen“ von Christian Moullec. Der passionierte Ornithologe unternahm tatsächlich erfolgreiche Bemühungen, gefährdeten Wildgänsen sicherere, alternative Zugrouten anzugewöhnen. Über seine Idee und ihre Umsetzung gibt es auch schon eine wunderschön gefilmte, hierzulande auf DVD und Blu-ray erhältliche Dokumentation namens „Der mit den Gänsen fliegt“.

    Schon Moullecs wahre Geschichte erinnert an den vor mehr als 100 Jahren von der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf verfassten Klassiker „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. Vanier hat mit seinen Co-Autoren zur realen Geschichte noch den Sohn Thomas, viele kleine Details seines Abenteuers sowie die meisten Nebenfiguren hinzugedichtet. Dass nun kein erwachsener Mann, sondern ein Junge auf die große Reise geht, rückt ihren Film noch näher an Lagerlöfs Werk heran. Dieser Umstand ist den Drehbuchschreibern nicht nur bewusst, er dürfte gewollt sein. Stellt Thomas sich in einer Szene doch selbst mit dem Namen des Romanhelden einem kleinen Mädchen vor, das ihm mit ein paar Litern Benzin aus dem Boot ihres Papas aushilft.

    ... und dann schließlich auch Flugstunden für die vom Aussterben bedrohten Wildgänse.

    Die zwei Hauptcharaktere sind clever gezeichnet und der Story-Bogen lässt sich gerade am Anfang genügend Zeit für sie. Zunächst wirken Sohn und Vater auf den Zuschauer eher abschreckend als sympathisch. Doch je näher wir die beiden, nicht nur mittels ihrer Interaktion mit den Vögeln, sondern gerade auch untereinander kennenlernen, desto fester schließen wir sie ins Herz. Es dauert nicht lange und das Publikum drückt dem ungleichen Duo und seinen gefiederten Schützlingen alle verfügbaren Daumen, dass sie mit ihrem nüchtern betrachtet doch ziemlich verrückt erscheinenden Plan Erfolg haben werden.

    Der französische Originaltitel ist um einiges poetischer. „Donne Moi Des Ailes“ heißt übersetzt in etwa „Verleihe mir Flügel“ und stellt den Coming-of-Age-Aspekt der Geschichte noch deutlicher heraus. Es ist berührend zu sehen, wie sich der von Jungschauspieler Louis Vazquez („Der Klavierspieler vom Gare du Nord“) in jeder Phase überzeugend dargestellte Thomas von einem nervigen Rotzlöffel in Richtung eines Verantwortung übernehmenden, mutigen jungen Mannes entwickelt. Ebenso viel Freude bereitet es mitzuerleben, wie die Entfremdung, die Distanz und emotionale Kälte zwischen Vater und Sohn sich durch das Finden und Durchführen eines gemeinsamen Projektes stufenweise und glaubhaft auflösen.

    Nur die Realität ist spektakulärer

    Speziell im zweiten, dem Roadmovie-Teil, wenn Vater und Sohn erst nach Norwegen fahren und Thomas dann bald ganz allein in der Luft unterwegs ist, häufen sich allerdings auch ein paar holprige Sprünge in der Handlung und auch kleinere logische Widersprüche. Außerdem sind die Luftaufnahmen des als Naturfilmer erfahrenen Kameramanns Eric Guichard („Unsere Wildnis“) zwar durchaus ansehnlich, sie können aber mit den atemberaubenden, realen Bildern aus der bereits genannten Doku aber nie ganz mithalten - auch weil sie gelegentlich etwas zu gekünstelt und klischeehaft daherkommen.

    Dennoch macht das streckenweise erstaunlich spannende Abenteuer einfach eine Menge Spaß! Und falls Regisseur Nicolas Vanier es schaffen sollte, ein paar Stadtkinder dazu zu bringen, sich nicht mehr nur für digitale Bespaßung, sondern zusätzlich vielleicht für die Natur und das darin stattfindende Leben zu interessieren, hätte sich seine und die Arbeit von Cast und Crew doch schon allemal gelohnt.

    Fazit: Ein inspirierendes Kino-Abenteuer, nicht nur für Väter, Söhne und Vogelenthusiasten, sondern für die komplette Familie.

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