Mit einem Löffel Zucker
Von Michael MeynsEigentlich ist mit dem deutschen Titel von Louis-Julien Petits rührendem Sozial-Drama „Der Glanz der Unsichtbaren“ schon alles gesagt. Das spricht zum einen für die Person, die sich den schönen deutschen Titel ausgedacht hat, zum anderen aber auch ein Stück weit gegen den Film selbst, dessen Macher zwar ohne Frage engagiert sind und das Herz an der rechten Stelle tragen, aber zugleich auch ziemlich überraschungsfrei von Menschen am Rand der Gesellschaft erzählen. In Frankreich war der Film über eine Tagesstätte für obdachlose Frauen und die an Rückschlägen reichen Versuche, ihnen zu helfen, trotzdem ein großer Erfolg: Mehr als eine Millionen Besucher haben sich den Film in unserem Nachbarland im Kino angesehen. Verstehen kann man das schon, denn was trotz aller dramaturgischen Schwächen letztlich doch für Petits Film spricht, ist vor allem das Darstellerinnen-Ensemble: Neben einigen professionellen Schauspielerinnen spielen auch viele Frauen mit, die früher selbst auf der Straße gelebt haben und durch ihre persönlichen Erfahrungen ein erstaunliches Maß an Authentizität mit in den Film einbringen.
In einer nordfranzösischen Stadt betreibt Manu (Corinne Masiero) die Tagesstätte L'Énvol, was auf Deutsch in etwa „Abflug“ oder „Aufbruch“ bedeutet. Hier wird obdachlosen Frauen die Möglichkeit gegeben, sich aufzuwärmen, zu duschen und einen Kaffee zu trinken. Jeden Morgen um neun Uhr empfangen Manu und ihre Kolleginnen Audrey (Audrey Lamy), Hélène (Noémie Lvovsky) und Angélique (Déborah Lukumuena) die bereits am Tor wartenden Frauen. Doch ihnen nur tagsüber einen Platz zu bieten, reicht vor allem der besonders engagierten Audrey nicht länger aus: Sie will den Frauen einen Schlafplatz anbieten können, ihnen zudem auch noch dabei helfen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, eine feste Bleibe und vielleicht sogar einen Job zu finden. Doch diese Versuche, über das Mandat der Tagesstätte hinaus zu helfen, verstoßen gegen das Gesetz – und so drohen die zusätzlichen Hilfsangebote an den Hürden der Bürokratie zu scheitern und womöglich muss L'Énvol sogar ganz dichtmachen…
Audrey opfert ihr ganzes (Privat-)Leben für die Einrichtung - und würde trotzdem gern noch mehr geben.
„Sisters are doin' it for themselves“ singen die Eurythmics gleich mehrfach auf dem Soundtrack zu „Der Glanz des Unsichtbaren“. Das passt perfekt, selbst wenn ein Mann Regie geführt hat. 40% der Obdachlosen in Frankreich sind weiblich - eine erschreckende Statistik, zumal Frauen zusätzlich zu den ohnehin beachtlichen Gefahren eines Lebens auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften oft auch noch sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Claire Lajeunie hat über das Schicksal dieser Frauen ein Sachbuch geschrieben, das Louis-Julien Petit nun als Vorlage für seinen Film genutzt hat. Dementsprechend ist es nicht weiter überraschend, dass vor allem die dokumentarisch anmutenden Szenen des Films besonders stark geraten sind. Etwa über die ganz alltäglichen Probleme von Obdachlosen, auf die jemand mit einer Wohnung gar nicht kommen würde, weil uns diese Dinge als so selbstverständlich erscheinen. Die offensichtlich fiktiven Passagen, etwa wenn das Privatleben von Audrey oder Hélène angedeutet wird, sind hingegen sehr viel hölzerner geraten. Dieses Nebeneinander von präzisen Alltagsbeobachtungen und einem süßlichen Storykonstrukt drumherum zieht sich durch den ganzen Film.
Der gar nicht so heimliche Star ist dabei eindeutig Adolpha Van Meerhaeghe als Chantal, die viele Jahre im Gefängnis verbracht hat, nachdem sie in Notwehr ihren gewalttätigen Mann getötet hat. Ein wenig verhärmt wirkt sie, verständlicherweise introvertiert und nicht gerade wortgewandt. Vor allem ist sie aber unerbittlich ehrlich, weshalb sie bei Bewerbungsgesprächen immer wieder auch ungefragt von ihrer Knast-Vergangenheit berichtet – und die Stelle deswegen nicht bekommt. Man drückt ihr alle Daumen – und trotzdem ist es auch witzig, mit welchem Selbstverständnis sie immer wieder aneckt (und die Betreuerinnen sie dabei heimlich beobachten und im Hintergrund alles tun, damit sie trotzdem Erfolg hat). Schließlich hat Chantal viel Talent, was das Reparieren technischer Geräte angeht. Doch die Jahre im Gefängnis haben ihr – wie vielen ihrer Leidensgenossinnen – etwa von ihrer sozialen Kompetenz genommen. Nimmt man dann noch die Vorurteile der Gesellschaft hinzu, kann man langsam erahnen, wie schwierig es ist, so einem Leben auf der Straße wieder zu entkommen.
Dass zusätzlich auch noch die Regeln der Bürokratie ein Engagement der Frauen aus dem L'Énvol praktisch unmöglich machen, könnte auch zu einer anklagende-pessimistischen Resignation führen. Aber so realistisch und dokumentarisch Loius-Julien Petit sein Thema im Großen und Ganzen auch angeht: Am Ende ist „Der Glanz der Unsichtbaren“ dann eben doch kein ungebrochener Sozialrealismus im Stil eines Ken Loach („Ich, Daniel Blake“, „Sorry We Missed You“), sondern ein Wohlfühlfilm. So bitter die geschilderten Schicksale oft auch wirken, im Zweifelsfall entscheidet sich Petit stets dafür, sie mit einem Löffel Zucker zu servieren und die Schicksalsschläge mit einer positiven Note zu konterkarieren. Ob das immer glaubwürdig ist, sei dahingestellt. Aber es fühlt sich deshalb auch nicht gleich so an, als würde Petit die Situation verharmlosen – stattdessen wirkt „Der Glanz der Unsichtbaren“ eher so, als wolle er einen möglichen positiven Ausweg aus den gravierenden Problemen der obdachlosen Frauen aufzeigen.
Fazit: Mit viel emotionalem Engagement, aber ohne größere dramaturgische Ambitionen erzählt Louis-Julien Petit in „Der Glanz der Unsichtbaren“ vom berührenden Schicksal obdachloser Frauen in Frankreich.