Cyberkrimi trifft Familiendrama in München
Von Lars-Christian DanielsViele Stammzuschauer dürften beim 79. „Tatort“ mit den altgedienten Kommissaren Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ein Dejá-vu erleben: Wie jetzt, schon wieder künstliche Intelligenz? Schließlich ist es gerade mal einen Monat her, dass ihre Berliner Kollegen Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) im „Tatort: Tiere der Großstadt“ an einen vollautomatischen und mit dem Kunden interagierenden Kaffeeroboter gerieten, der im Hinblick auf die Auflösung des Mordfalls eine entscheidende Rolle spielte. Die Digitalisierung hat die Drehbücher der Krimireihe weiterhin fest im Griff – schließlich ging es in der jüngeren Vergangenheit auch schon im durchwachsenen Saarbrücker „Tatort: Mord Ex Machina“ oder im schwachen Bremer „Tatort: Echolot“ um ganz ähnliche Themen. Auf ganzer Linie überzeugen kann auch die neue Folge aus München nicht: Die Filmemacher um Regisseur Sebastian Marka („Hit Mom: Mörderische Weihnachten“) legen im „Tatort: KI“ zwar einmal mehr den Finger an den Puls der Zeit, tragen bei den Figuren aber viel zu dick auf und helfen der Dramaturgie auf Kosten der Logik auf die Sprünge.
Eigentlich sind die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) gar nicht für den Fall zuständig. Doch als die 14-jährige Melanie Degner (Katharina Stark) vermisst wird, sieht sich Batic in der Pflicht: Ihr Vater Robert (Dirk Borchardt) ist ein alter Bekannter von der „Sitte“. Melanies Verschwinden gibt den Ermittlern ebenso Rätsel auf wie ihrer Mutter Brigitte (Lisa Martinek): Auf dem Laptop des Mädchens finden die Kommissare eine komplexe künstliche Intelligenz namens MARIA, die aus dem Leibniz-Rechenzentrum in Garsing gestohlen und auf ihrem Rechner installiert wurde. Wie konnte das angesichts der hohen Sicherheitsvorkehrungen passieren? Eine Spur führt zum IT-Techniker Christian Wilmots (Thorsten Merten), der im LRZ arbeitet und Zugriff auf alle Server hat. Auch die junge Programmiererin Anna Velot (Janina Fautz) rückt ins Visier der Ermittler: Sie würde MARIA gern weiterentwickeln, wird von ihrem Chef Bernd Fehling (Florian Panzner) aber regelmäßig ausgebremst. Bei der Aufklärung des Falls sind Batic und Leitmayr wohl oder übel auf die Unterstützung der KI angewiesen: Als Melanie verschwunden ist, war der Laptop eingeschaltet und MARIA wurde offenbar Zeugin der Tat…
Der Name Sebastian Marka stand in den vergangenen Jahren für Krimiqualität: Mit dem Berliner „Tatort: Meta“, dem Wiesbadener „Tatort: Es lebe der Tod“ oder dem Münchner „Tatort: Die Wahrheit“ inszenierte der Regisseur, der bei seiner siebten Arbeit für die öffentlich-rechtliche Erfolgsreihe auch für den Schnitt verantwortlich zeichnet, drei der stärksten Filme der Krimi-Reihe in der jüngeren Vergangenheit. An dieses hohe Niveau kann er diesmal nicht ganz anknüpfen, wenngleich sich die Ausgangslage der Geschichte vielversprechend gestaltet: Die Idee der Drehbuchautoren Stefan Holtz („Donna Leon“) und Florian Iwersen („Die Chefin“), eine Form von künstlicher Intelligenz zur wertvollsten Augenzeugin zu machen, hat es im „Tatort“ so noch nicht gegeben. Wenngleich der warnende Zeigefinger nicht ausbleibt, rückt die KI zunächst in ein für die Krimireihe ungewohnt positives Licht – und wenn Leitmayr beim ersten Verhör von MARIA schon nach wenigen Fragen die Geduld verliert und entnervt abbricht, darf natürlich auch geschmunzelt werden. Das ist typisch für den „Tatort“ aus München, geht aber auf Kosten der Logik: MARIA scheint bei den Befragungen stets die Antworten zu geben (oder eben nicht zu geben), die dramaturgisch gerade am besten ins Konzept passen.
Während Batic und Leitmayr sich in ihrem 26. Dienstjahr routiniert an das High-Tech-Thema herantasten und die weniger technikaffinen Zuschauer unaufdringlich an die Hand nehmen, bestätigen ihre Kollegen ein ungeschriebenes „Tatort“-Gesetz: Die Stars sind die Kommissare und auszubügelnde Ermittlungsfehler gehen häufig aufs Konto der unteren Dienstränge – diesmal auf das von Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer), der sich mit einem simplen Hackertrick aufs Kreuz legen lässt, und Ritschy Semmler (Stefan Betz), der bei einer Observation nicht richtig hinsieht. Bei anderen Nebenfiguren offenbaren sich erhebliche Schwächen bei der Charakterzeichnung: Den nicht von ungefähr mit Sonnenbrille, Cap und Vollbart förmlich maskierten Christian Wilmots (Schauspieler Thorsten Merten spielt schließlich auch im „Tatort“ aus Weimar eine wichtige Rolle) skizzieren die Filmemacher viel zu oberflächlich als paranoiden Technikfreak („Wer schickt euch? NSA? BND?“), während die ehrgeizige Überfliegerin Anna Velot kaum mehr als ein anstrengendes Klischee auf zwei Beinen ist.
Trotz der vielen Szenen im stylish eingerichteten Leibniz-Rechenzentrum ist der 1069. „Tatort“ aber kein reiner Cyber-Krimi, sondern auch ein – leider sehr vorhersehbares – Familiendrama: Wieviel durch die Scheidung der Degners ins Rollen gekommen ist, lässt schon die Schachtel mit Antidepressiva erahnen, die die Mutter des verschwundenen Mädchens in ihrer ersten Szene in einer Schublade verschwinden lässt. Während wir am Seelenleben ihres Ex-Mannes Robert ausführlich teilhaben dürfen, bleibt Brigitte Degner die große Unbekannte in diesem „Tatort“ – erfahrene Krimizuschauer ziehen daraus schon früh die entsprechenden Schlüsse. Auch über die Gründe für Melanies Einsamkeit und ihre Flucht in die Pseudo-Freundschaft zu einer künstlichen Intelligenz erfahren wir viel zu wenig, als das uns das Schicksal des Mädchens berühren würde – und so wirft der tragische Showdown am Ende fast mehr Fragen auf, als er beantwortet. Sehenswert ist der „Tatort: KI“ daher nur, wenn man über einige (technische) Logiklöcher und die platten Figuren hinwegsehen kann.
Fazit: Sebastian Markas „Tatort: KI“ ist eine Kreuzung aus Cyberkrimi und Familiendrama, deren Drehbuch trotz guter Ansätze einige Schwächen offenbart.