Schon jetzt das "Tatort"-Highlight des Jahres
Von Lars-Christian Daniels1993 schrieb der 2014 verstorbene Regisseur und Drehbuchautor Harold Ramis („Year One – Aller Anfang ist schwer“) mit einer sympathischen Komödie Kinogeschichte: In seinem mittlerweile längst zum festen Bestandteil der Popkultur gereiften Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ durchlebt der Wettermoderator Phil Connors (Bill Murray) zum Staunen seiner Kollegin Rita (Andie MacDowell) denselben Tag immer und immer wieder – genauer gesagt den Murmeltiertag in Punxsutawney, Pennsylvania, der dort am 2. Februar eines jeden Kalenderjahres gefeiert wird. Ein ganz ähnliches Schicksal trifft nun auch den Wiesbadener „Tatort“-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur, „Grzimek“): Der für seine TV-Experimente berühmt-berüchtigte Hessische Rundfunk lässt den LKA-Ermittler unter der Regie von Dietrich Brüggemann („Kreuzweg“) in einem waschechten Zeitschleifenkrimi auf zwei Geiselnehmer los. Dass Brüggemanns „Tatort: Murot und das Murmeltier“ 2018 beim Festival des deutschen Films mit dem Filmkunstpreis ausgezeichnet wurde, kommt nicht von ungefähr: Seine großartige Krimikomödie ist wahrscheinlich schon jetzt das „Tatort“-Highlight des Jahres und sprengt in beeindruckender Manier die Grenzen des Genres.
Der Wiesbadener LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) wird morgens von seiner Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) aus dem Bett geklingelt: In einer Filiale der Taunusbank hat sich der verzweifelte Stefan Gieseking (Christian Ehrich) mit einer Waffe verschanzt und gemeinsam mit seiner Freundin Nadja Eschenbach (Nadine Dubois) mehrere Angestellte als Geiseln genommen. Als Murot am Tatort eintrifft, verschafft er sich im Gespräch mit Wächter sowie den Polizisten Dreher (Tom Lass), Brendel (Jörg Bundschuh) und Schreiner (Monika Anna Wojtyllo) zunächst einen Überblick: Die Sicherheitskameras haben die Täter abgeklebt und ein Experte für Geiselnahmen ist momentan nicht verfügbar. In Absprache mit dem SEK-Leiter Backhaus (Felix Schönfuss) begibt sich Murot in einer kugelsicheren Weste in die Bank, um die Geiselnehmer zur Aufgabe zu überreden. Doch das geht schief: Eschenbach greift zur Waffe und jagt dem Kommissar eine tödliche Kugel in den Kopf. Dann klingelt plötzlich dessen Handy: Murot liegt schweißgebadet in seinem Bett und hat Wächter am Apparat, die ihm von einer Geiselnahme in einer Filiale der Taunusbank erzählt…
Der 1084. „Tatort“ legt „ein strukturelles Problem der deutschen Filmlandschaft offen, dass im Fernsehen durch mutige Redaktionen außerordentlich intelligente und kühne Filme entstehen können.“ So begründete die Jury die Vergabe des Filmkunstpreises an Dietrich Brüggemanns zweiten Fernsehkrimi nach dem ebenfalls tollen „Tatort: Stau“ – und man kann das Urteil uneingeschränkt unterschreiben. Denn mit dem grandiosen „Tatort: Murot und das Murmeltier“ liefern Brüggemann und der Hessische Rundfunk erneut den Beweis, dass sich mit einem originellen Drehbuch, den richtigen Filmemachern und einer ordentlichen Portion Mut so viel mehr aus einem Sonntagskrimi herausholen lässt, als wir es am Ende der Woche häufig zu sehen bekommen: Nach dem alles überragenden „Tatort: Im Schmerz geboren“, dem vieldiskutierten Film-im-Film-„Tatort: Wer bin ich?“ und dem atmosphärisch unheimlich starken „Tatort: Es lebe der Tod“ ist Murots siebter Fall gleich der nächste Volltreffer aus Wiesbaden – und dürfte das Stammpublikum einmal mehr spalten.
Wer nämlich auf einen klassischen Krimi mit obligatorischer Auftaktleiche und einer möglichst verblüffenden Auflösung hofft, schaltet den falschen Sender ein: Die erste Zeitschleife – und damit das eigentliche Ende des Falls – endet schon nach wenigen Minuten, weil Murot einen Fehler begeht und prompt das Zeitliche segnet. Dann beginnt alles von vorn: So wie Wetteransager Phil Connors im eingangs erwähnten Hollywood-Klassiker Tag für Tag um 6 Uhr morgens den Sonny & Cher-Hit „I Got You Babe“ ertragen muss, startet Murots Morgen meist mit dem Anruf seiner Kollegin Wächter, die ihn zum Ort der Geiselnahme zitiert. Auch der weitere Verlauf des Tages gestaltet sich bis zum einem gewissen Punkt stets ähnlich: Statt wie Connors einem Hotelmitarbeiter auf dem Flur, der Wirtin am Frühstücksbuffet oder dem alten Bekannten auf der Straße zu begegnen, trifft Murot jeden Morgen die Joggerin (Katharina Schlothauer) aus der Wohnung nebenan, tadelt seinen Nachbarn (Daniel Zillmann) für dessen laute Musik, quatscht kurz mit einer jungen Mutter (Anna Brüggemann) und lässt sich im Auto von einer Scheibenputzerin (Desiree Klaeukens) bedienen – oder eben auch nicht.
Filmemacher Dietrich Brüggemann, der neben Drehbuch und Regie auch für die stimmungsvolle Musik des HR-Sinfonieorchesters verantwortlich zeichnet, begnügt sich allerdings nicht damit, den populären Hollywood-Klassiker nur zu kopieren, sondern setzt eigene Akzente: Mit Geiselnehmer Stefan Gieseking (köstlich: Christian Ehrich, „Drei Zimmer/Küche/Bad“) steckt neben Murot noch eine zweite Figur in der Zeitschleife fest, und statt zu einer festen Uhrzeit beginnt die Geschichte immer dann von neuem, wenn einer der beiden zu Tode kommt. Das erhöht den Überraschungseffekt enorm, weil das Geschehen noch unvorhersehbarer wird: Mal dauert eine Geschichte zwanzig Minuten, mal wenige Sekunden. Murot benötigt stolze zwölf Anläufe in unterschiedlichsten Stimmungslagen, ehe der Film auf sein großes Finale zusteuert – und immer dann, wenn sich eine variierte Szene (zum Beispiel der verschüttete Kaffee auf der Hose des Kommissars) abzunutzen beginnt, platziert Brüggemann die nächste pfiffige Idee oder einen gelungenen Exkurs.
Den „Tatort: Murot und das Murmeltier“ auf die unzähligen tollen Drehbucheinfälle (Stichwort: Kettensäge oder Papierflieger), die brüllend komischen Dialoge („Aber Sie müssen sich ja nicht gleich umbringen, nur weil Sie sich ausgesperrt haben!“) oder die schräge Situationskomik zu reduzieren, würde der Extraklasse der Krimikomödie aber nicht ganz gerecht: Im Schlussdrittel hievt Brüggemann seinen Fernsehfilm durch die fast philosophische Selbstreflexion von Kommissar und Täter im Hinblick auf den ewigen Kreislauf und die Eintönigkeit des Lebens auf ein noch herausragenderes Level und hält dem ewigen Krimi-Einheitsbrei im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das sich gerade bei der jungen Zielgruppe kaum noch gegen Netflix & Co. behaupten kann, knallhart den Spiegel vor. „Tatort, Polizeiruf, Soko, Der Alte, Der Junge – das is‘ alles dasselbe“, stimmt Sanitäter Erik (Sascha Nathan) verbittert den Abgesang auf den deutschen Krimi an, doch möchte man ihm diesmal in Anlehnung an Arya Stark (Maisie Williams) aus dem HBO-Hit „Game Of Thrones“ erwidern: Nicht heute.
Fazit: Der „Tatort“ aus Wiesbaden spielt weiterhin in seiner eigenen Liga und zeigt, wie herausragend deutsches Fernsehen doch hin und wieder sein kann.