Ein "Tatort" aus der Perspektive des Täters
Von Lars-Christian DanielsBei einem „Tatort“ und bei Fernsehkrimis im Allgemeinen ist eines so sicher wie das Amen in der Kirche: Die Geschichte wird aus der Sicht des Ermittlers erzählt und der Zuschauer findet in ihm damit eine Identifikationsfigur, der er bei der Suche nach der richtigen Auflösung über die Schulter blicken darf. Martin Eiglers „Tatort: Der Mann, der lügt“, der beim SWR Sommerfestival 2018 auf dem Stuttgarter Schlossplatz seine Vorpremiere feierte und dort viel Beifall vom Publikum erntete, ist schon allein aus diesem Grund einer der bemerkenswertesten Sonntagskrimis der vergangenen Jahre: Der Filmemacher variiert die Perspektive und erzählt seinen „Tatort“ nicht etwa aus der Perspektive der Kommissare, sondern aus der Sicht des Hauptverdächtigen. Das funktioniert ganz hervorragend: Der 22. Fall der Kommissare aus dem „Ländle“, die mit diesem Krimi ihr zehnjähriges Dienstjubiläum feiern, ist einer ihrer stärksten und lebt neben dem tollen Drehbuch auch von den glänzend aufgelegten Hauptdarstellern.
Nachdem der Anlageberater Uwe Berger erstochen in seiner Villa aufgefunden wurde, führt der Weg der Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) zu Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey): Der Tote hatte ihn in Sachen Geldanlage beraten und am Vorabend einen Termin mit Gregorowicz in seinem Kalender stehen. Der Familienvater, der seit fünfzehn Jahren mit seiner Frau Katharina (Britta Hammelstein) und seiner Tochter Jule (Livia Sophie Magin) zusammenlebt, war zur Tatzeit aber angeblich bei seinem Zahnarzt Dr. Radu Voica (Daniel Wagner) und hat damit ein wasserdichtes Alibi. Das zumindest erzählt Gregorowicz den Kommissaren – die noch nicht ahnen, dass dies nur eine von vielen weiteren Lügen ist, die er den Ermittlern auftischt. Aber auch seiner Gattin und seinem Schwager Moritz Ullmann (Hans Löw), von dem er sich anwaltlich vertreten lässt, hat er lange Zeit keinen reinen Wein eingeschenkt: Durch die Anlage in verlustreiche Aktienfonds, zu der ihm Berger geraten hatte, hat Gregorowicz über 200.000 Euro verloren. Als sich herausstellt, dass auch noch Bergers Sohn Linus verschwunden ist, nehmen die Kommissare den Hauptverdächtigen in die Mangel…
War er’s oder war er’s nicht? Anders als in einem klassischen Whodunit stellt sich im 1071. „Tatort“ weniger die Frage, wer den brutalen Mord begangen hat, sondern ob der Mord von einer bestimmten Person begangen wurde. Der starke Fokus auf den oder die Hauptverdächtigen ist für die Krimireihe aber gar nicht so ungewöhnlich, wie man meinen sollte: Ähnliche Ansätze gab es zum Beispiel im Hamburger „Tatort: Haie vor Helgoland“ von 1984, im Frankfurter „Tatort: Das Böse“ von 2003 oder im Wiener „Tatort: Der Teufel vom Berg“ von 2005. Die Rigorosität dieses Perspektivwechsel sucht aber ihresgleichen: Im „Tatort: Der Mann der lügt“ reden die Ermittler tatsächlich kein einziges Wort miteinander. Die Geschichte wird komplett aus der Sicht von Jakob Gregorowicz erzählt und die Dialogzeilen der Kommissare beschränken sich allein auf dessen Befragungen – damit sind auch Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Nika Banovic (Mimi Fiedler in ihrem letzten „Tatort“-Auftritt) nur bessere Statisten. Wir folgen Gregorowicz nach Hause, auf den Tennisplatz und zum Zahnarzt – und anders als die Kommissare, die sich das Puzzle erst Stück für Stück erarbeiten müssen, werden wir auch früh zum Zeugen seines homosexuellen Doppellebens.
Der Zuschauer nimmt damit eine für ihn ungewohnte Rolle ein: Er weiß zwar deutlich mehr als die Kommissare, deren Kamerazeit sich in der ersten Filmhälfte auf wenige Minuten beschränkt, aber auch nicht ganz so viel wie der undurchsichtige Tatverdächtige. Statt die Täterfrage von Beginn an offenzulegen, installiert Regisseur und Drehbuchautor Martin Eigler („Stralsund“), der das Skript gemeinsam mit Sönke Lars Neuwöhner („Ich werde nicht schweigen“) schrieb, vielsagende Flashbacks: Ob das, was Gregorowicz in seinen nächtlichen Albträumen und in verschwommen eingefangenen Tagträumen durchlebt, aber auch der Wahrheit entspricht oder nur ein weiterer Teil seines riesigen Lügengerüsts ist, vermögen wir nicht so leicht zu durchschauen. Daran ändert auch die zweite Filmhälfte nichts, in der sich der Film fast zum Kammerspiel wandelt: Ähnlich wie im Berliner „Tatort: Machtlos“ von 2013 oder im Götz-George-Klassiker „Der Totmacher“ beschränkt sich das Geschehen für lange Zeit auf einen einzigen Verhörraum, in dem sich die engagierten Kommissare aus dem „Ländle“ trotz aller Bemühungen die Zähne am Verdächtigen ausbeißen.
Dass dieser Stuttgarter „Tatort“ trotz kleinerer Spannungstiefs so überzeugend ausfällt, liegt aber auch an den erstklassigen Darbietungen von Hauptdarsteller Manuel Rubey („Feierabendbier“) und seiner Leinwandpartnerin Britta Hammelstein („Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm“): Während Rubey seine von Geldsorgen, Polizei und betrogener Ehefrau getriebene Figur facettenreich mit Leben füllt, glänzt Hammelstein vor allem in den emotionalen Streitgesprächen im Hause Gregorowicz, in dem mehr im Argen liegt, als man anfangs für möglich halten sollte. Etwas kurz kommen mit Frank Schacht (Robert Schupp), Detlef Schönfliess (Marc Fischer) und Armin Gross (Holger Daemgen) die Freunde der Familie, doch auch das ist dem strikten Fokus auf den umtriebigen Hauptverdächtigen geschuldet: Ob der Mann, der lügt, auch der Mann ist, der mordet, bleibt bis in die Schlussminuten offen. Und ob es die erklärenden Texttafeln in diesem „Tatort“ für ein befriedigendes Ende wirklich noch gebraucht hätte, mag jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.
Fazit: Martin Eiglers „Tatort: Der Mann, der lügt“ ist ein überzeugender Krimi aus dem „Ländle“ mit einem ungewohnten erzählerischen Ansatz.