In der Nacht zum 18. Oktober 1977 nahmen sich die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Gefängniszellen in Stuttgart-Stammheim das Leben. Ihre ebenfalls inhaftierte Mitstreiterin Irmgard Möller überlebte mit lebensgefährlichen Verletzungen. Wenige Stunden zuvor war dem GSG-9-Kommando in Mogadischu die Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ gelungen – und nach Bekanntwerden des Todes ihrer Anführer antwortete die RAF mit der Hinrichtung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, dessen Mörder bis heute nicht eindeutig ermittelt werden konnte. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen historischen Ereignisse spielt der Stuttgarter „Tatort: Der rote Schatten“ von Filmemacher Dominik Graf („Die geliebten Schwestern“): Der Regisseur und Drehbuchautor verknüpft die langen Schatten dieser Schreckensnacht und den realen Kampf gegen die RAF mit einer fiktiven Geschichte, die 40 Jahre später in der Gegenwart angesiedelt ist. Das Ergebnis ist ein unbedingt sehenswerter, wenn auch etwas überfrachteter Politthriller, in dem die damalige Schlamperei der Behörden schonungslos aufgearbeitet wird.
Die Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) finden im Kofferraum des unter Schock stehenden Christoph Heider (Oliver Reinhard) die Leiche von dessen Ex-Frau Marianne. Wenige Tage zuvor hatte die tote Frau noch in der Pathologie gelegen, nachdem sie in ihrer Badewanne ums Leben gekommen war – nun hat ihr Ex-Mann die Leiche aus der Friedhofskapelle entwendet, um sie im Ausland erneut obduzieren zu lassen. Warum traut er den deutschen Behörden nicht? Staatsanwältin Emilia Álvarez (Carolina Vera) lässt den Fall nach anfänglichem Zögern neu aufrollen, was Oberstaatsanwalt Lutz (Friedrich Mücke), der in engem Austausch mit dem Verfassungsschutz steht, überhaupt nicht schmeckt. Ins Visier der Ermittler, die von Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) und Gerichtsmediziner Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) unterstützt werden, gerät neben Heiders Tochter Luisa (Leonie Nonnenmacher) auch Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke), der mit der Toten liiert war und von ihrer Lebensversicherung über 400.000 Euro profitiert. Noch ahnen Lannert und Bootz nicht, dass der finanziell mittellose Jordan früher als V-Mann in höchsten RAF-Kreisen tätig war und 40 Jahre nach der „Todesnacht von Stammheim“ die gesuchte Terroristin Astrid Frühwein (Heike Trinker) in seiner Gartenlaube versteckt…
Wie wurden die Waffen in den Hochsicherheitstrakt der JVA geschmuggelt? Warum konnten die Ereignisse in der Nacht zum 18. Oktober bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden? Und wie weit reicht der Spielraum des Verfassungsschutzes beim Kampf gegen den Terrorismus? Es sind diese und weitere Fragen, die Dominik Graf im 1031. „Tatort“ andiskutiert und teilweise neu beantwortet. Dabei verwebt der zehnfache (!) Grimme-Preisträger gekonnt historisches Filmmaterial mit fiktiver Vergangenheit und Gegenwart: Dokumentarische Szenen wie den Hilferuf des entführten Hanns-Martin Schleyer oder die spektakuläre Verhaftung von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins, die auch in Uli Edels „Der Baader Meinhof Komplex“ illustriert wurde, kombiniert Graf mit nachgedrehten 70er-Jahre-Szenen und streut diese regelmäßig in das Geschehen im Hier und Jetzt ein. Dank der authentischen Aufbereitung verwischen dabei die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Zum genauen Tathergang in der „Todesnacht von Stammheim“ hat Graf seine ganz eigene Theorie, die in krassem Widerspruch zur offiziellen Version steht – das birgt politischen Sprengstoff und dürfte im Anschluss an die TV-Premiere des Films für kontroverse Diskussionen sorgen.
Den Generationsunterschied spiegelt der Filmemacher in seinen beiden Hauptfiguren: Während Lannert zumindest in Grundzügen mit der RAF-Ideologie sympathisiert und sogar Gudrun Ensslin noch in einer WG kennengelernt hat, kennt Bootz den „Krieg der Kinder gegen ihre Väter“ nur aus den Medien und wird so für das jüngere TV-Publikum zur Identifikationsfigur. Wer die dramatischen Ereignisse von 1977 nicht miterlebt oder im Geschichtsunterricht geschlafen hat, steht im „Tatort: Der rote Schatten“ aber lange auf verlorenem Posten: Erst nach einer guten Stunde nimmt Graf die historisch weniger bewanderten Zuschauer an die Hand und fasst den „Deutschen Herbst“ in einem mehrminütigen Rückblick in angemessener Ausführlichkeit zusammen. Wer sich auf einen klassischen Sonntagskrimi nach altbewährtem Schema gefreut hat, dürfte zu diesem Zeitpunkt längst die Lust an diesem komplexen Politthriller verloren haben, obwohl der Filmemacher dem Zuschauer weniger abverlangt als sonst: Anders als in seinem umstrittenen vorigen „Tatort: Aus der Tiefe der Zeit“ verzichtet Graf auf inszenatorische Fingerübungen und das für ihn typische, oft anstrengend hohe Erzähltempo, das im Vergleich zum Rest der Krimireihe aber auch dieses Mal immer noch sehr sportlich ausfällt.
Beim Blick auf den Kriminalfall in der Gegenwart kommen die Stammzuschauer jedoch zumindest ein wenig auf ihre Kosten: Die Täterfrage im Hinblick auf den rätselhaften Badewannentod ist zwar früh beantwortet, es bleibt aber nicht bei einer Leiche, sodass der Spannungsbogen nie in den Keller fällt und bei der – leider etwas hektisch zusammengeschusterten – Auflösung wie gewohnt mitgerätselt werden darf. Unter dem Strich engt das 90-minütige „Tatort“-Korsett die Geschichte allerdings spürbar ein: Nicht von ungefähr hat Graf noch einen zehn Minuten längeren „Director’s Cut“ seines Films schneiden lassen, auf den das Fernsehpublikum zunächst verzichten muss. Das Einschalten allein schon wert sind jedoch die starken Auftritte von Hannes Jaenicke („Meine fremde Freundin“) als abgehalfterter V-Mann und Heike Trinker („Verbotene Liebe“) als eiskalte Terroristin, während Friedrich Mücke – in der Krimireihe zuletzt als Hauptkommissar Henry Funck im nach zwei Folgen wieder abgesetzten „Tatort“ aus Erfurt zu sehen – als Oberstaatsanwalt Lutz relativ blass bleibt. Vielleicht wurde der Konflikt zwischen der Kripo, der Staatsanwaltschaft und einer ihr übergeordneten Behörde (hier: der Verfassungsschutz) in der Krimireihe aber auch einfach schon zu häufig erzählt, um noch wirklich mitreißen zu können.
Fazit: Dominik Grafs „Tatort: Der rote Schatten“ ist ein stark inszenierter Ausflug in die Zeit des „Deutschen Herbstes“ und zugleich ein komplexer Politthriller, der durch die strukturellen Grenzen der Krimireihe aber deutlich eingeengt wird.