Um die vor vielen hundert Jahren im Meer versunkene nordfriesische Insel Rungholt rankt sich eine finstere Sage: Sie besagt, die Inselbewohner hätten einst ein allzu gotteslästerliches Leben geführt und wären dafür vom Herrn mit einer schrecklichen Sturmflut bestraft worden. Der Legende nach hatten einige Bauern bei einem ausufernden Trinkgelage nicht nur eine Sau mit Schnaps abgefüllt, sondern auch noch einen Pfarrer dazu genötigt, dem betrunkenen Tier die letzte Ölung zu geben. Während der Pfarrer sich in Sicherheit bringen konnte, wurde die Insel von den Fluten der Nordsee komplett überschwemmt (und taucht angeblich alle sieben Jahre in der Johannisnacht unversehrt wieder auf). Auch die Glocken der Kirche sollen der Legende nach bei ruhigem Wetter unter der Wasseroberfläche zu hören sein – zumindest, wenn man den ortsansässigen Norddeutschen glaubt, die die Sage in Sven Bohses spannendem „Tatort: Borowski und das Land zwischen den Meeren“ vor starker Naturkulisse wieder aufleben lassen. Den Kieler Kommissar verschlägt es bei einem Solo-Einsatz auf die fiktive Nordsee-Insel Suunholt – und auf der gehen die Uhren noch anders.
Der Kieler Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) sollte eigentlich Bewerbungen sichten: Seine Kollegin Sarah Brandt hat sich versetzen lassen. Doch dafür fehlt die Zeit, denn sein Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) schickt ihn auf die nordfriesische Insel Suunholt, auf der die psychisch labile Famke Oejen (Christiane Paul) ihren Freund Oliver Teuber (Beat Marti) tot in der Badewanne gefunden hat. Teuber ist für die Kripo kein Unbekannter: Vor einem halben Jahr war der ehemalige Bauaufsichtsmitarbeiter in einen Schmiergeldskandal verwickelt und untergetaucht. Auf Suunholt wird Borowski von den Dorfpolizisten Maren Schütz (Anna Schimrigk) und Gunnar Peters (Jörn Hentschel) unterstützt. Die Ermittler finden heraus, dass Teuber nicht der erste Inselbewohner war, mit dem Oejen geschlafen hat: Tatverdächtig ist vor allem der Bäcker Jens Torbrink (York Dippe), aber auch Schweinebauer Gunnar Iversen (Marc Zwinz) scheint auf seinem Hof etwas zu verbergen. Für die Gottesdienerin Margot Hilse (Heike Hanold-Lynch) und ihren Neffen Daniel (Leonard Carow) ist der Fall klar: Der geldgierige Teuber und die freizügige Oejen haben den Zorn Gottes auf sich gezogen – so wie einst die Bewohner der überschwemmten Nachbarinsel Rungholt...
Auf eine Nordsee-Insel verschlug es zwei „Tatort“-Kommissare zuletzt im November 2013: Die Hamburger Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) ermittelten bei ihrem zweiten Einsatz im mäßig spannenden „Tatort: Mord auf Langeoog“. Die Geschichte im „Tatort: Borowski und das Land zwischen den Meeren“, der zu großen Teilen auf dem Festland gedreht wurde, hätte aber auch hervorragend zur niedersächsischen LKA-Kollegin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) gepasst: Deren „Tatort“-Einsätze kennzeichnete in den letzten Jahren oft, dass Lindholm von ihrem Chef in ein verschlafenes Provinznest geschickt und dort von eher untalentierten ortsansässigen Polizisten unterstützt wurde. Im 1049. „Tatort“ liegt der Fall genauso: Das auf Suunholt zuständige Landei Maren Schütz (Anna Schimrigk, „The Aftermath“) blamiert sich schon am Leichenfundort und ist in der Folge mehr schlecht als recht darum bemüht, den einleitenden Fauxpas beim Kieler Großstadtbullen Borowski wiedergutzumachen. Auch die übrigen Dorfbewohner werden von Regisseur Sven Bohse („Ku'damm 56“), der mit Ben Braeunlich und Peter Bender auch das Drehbuch zum Film geschrieben hat, ähnlich konservativ und misstrauisch skizziert, wie es im Niedersachsen-„Tatort“ schon unzählige Male zu beobachten war.
Dieser Griff in die Klischeekiste ist neben der Vorhersehbarkeit in der Täterfrage allerdings auch schon die einzige größere Schwäche des meist in geordneten „Tatort“-Bahnen verlaufenden Psycho-Krimis und resultiert eben auch ein Stück weit daraus, dass sich fast alles um die undursichtige Famke Oejen (großartig: Christiane Paul, „Steig. Nicht. Aus!“) und Borowskis Beziehung zu dieser – womöglich gar buchstäblich – männermordenden Femme fatale dreht: Während wir gegenüber dem Kommissar im Hinblick auf die Machenschaften von Schweinebauer Iversen (Marc Zwinz, „Großstadtrevier“) einen kleinen Wissensvorsprung genießen, bleibt uns Oejens Seelenleben ebenso ein Rätsel wie Borowski, der sich der Anziehungskraft der einsamen Hobby-Schwimmerin dennoch nicht entziehen kann. Zusätzliche Spannung generieren die stimmungsvollen Mystery-Anleihen, in denen die einleitend erwähnte Sage von Rungholt sowie Zitate aus Theodor Sturms Erzählung „Eine Halligfahrt“ bildgewaltig verarbeitet werden: In einer der irritierendsten Sequenzen des Films begegnet der Kieler Kommissar am Strand sogar einem Mann mit Schweinekopf, während am Horizont ein Orkan über dem Meer aufzieht.
Auch sonst durchzieht Bohses „Tatort“-Debüt eine leicht melancholische, düstere Atmosphäre, zu der das neblige Wetter, die tollen Küstenaufnahmen und der dröhnende Soundtrack einen erheblichen Teil beitragen. Der Kieler Ermittler, der den gesamten Film über dasselbe blaugrüne Hemd trägt, ist in dieser Umgebung voll in seinem Element und agiert bei seinem einmaligen Solo-Einsatz vor dem Amtsantritt seiner neuen Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik wird im bereits abgedrehten „Tatort: Borowski und das Haus der Geister“ debütieren) so überzeugend, als hätte er den Verlust seiner langjährigen Kollegin längst überwunden – das wiederum spricht nicht gerade für die gestrichene Figur Sarah Brandt (Sibel Kekilli, letzter Auftritt im „Tatort: Borowski und das Fest des Nordens“), die der NDR in den letzten Jahren in eine Sackgasse gefahren und über deren fehlende Weiterentwicklung sich die Schauspielerin nach ihrem Ausstieg öffentlich beklagt hatte. In Erinnerung bleiben in diesem „Tatort“ dafür zwei der außergewöhnlichsten Todesfälle in der fast 50-jährigen Geschichte der Krimireihe, von denen der zweite besonders grausam ausfällt und Erinnerungen an Ridley Scotts „Hannibal“ oder Bryan Fullers gleichnamige NBC-Serie weckt.
Fazit: Sven Bohses „Tatort: Borowski und das Land zwischen den Meeren“ ist ein spannender und überzeugend besetzter Nordsee-Krimi vor toller Naturkulisse und mit kleineren erzählerischen Schwächen.