Bei kaum einem Regisseur wird der Blick auf das Werk so sehr von Privatem und Persönlichem geprägt und überlagert wie bei Roman Polanski, dessen Lebensgeschichte tatsächlich voller filmreifer Dramen und Wendungen steckt. Dabei sind Missverständnisse vorprogrammiert, denn der Abgleich von Filmhandlungen und Klatschspalten ist kaum geeignet, eine tiefere Einsicht in das Schaffen eines Künstlers zu gewähren. Und doch stecken Polanskis Filme natürlich voller zutiefst persönlicher Züge, geradezu obsessiv verfolgt er bestimmte Themen und Motive. Dazu gehören etwa die Rolle des Bösen und die Verlorenheit des Individuums in der Welt. Der polnisch-französische Regisseur versteht es dabei wie kein zweiter, Angst und Schrecken mit dem Absurden zu verbinden. Diese typische Kombination von Horrorelementen und tiefschwarzem Humor ist in keinem anderen Film Polanskis so prägnant wie in dem 1976 entstandenen „Der Mieter". Der Psychothriller, bei dem der Filmemacher wie schon in „Tanz der Vampire" auch die Hauptrolle übernahm, ist - losgelöst von allen direkten biographischen Bezügen – ein oft zu Unrecht übersehenes Schlüsselwerk im Schaffen des Meisterregisseurs.
Der Büroangestellte Trelkovsky (Roman Polanski) bewirbt sich um eine Wohnung in einem etwas heruntergekommenen Pariser Mietshaus. Simone Choule, die junge Frau, die zuvor in dem kleinen Appartement wohnte, hat sich aus dem Fenster gestürzt und liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Der Vermieter Monsieur Zy (Melvyn Douglas) erteilt Trelkovsky vorläufig den Zuschlag. Bei einem Besuch im Hospital lernt dieser am Krankenbett seiner wie eine Mumie einbandagierten Vormieterin deren Freundin Stella (Isabelle Adjani) kennen. Als die Gäste die Patientin ansprechen, stößt diese einen markerschütternden Schrei aus. Kurze Zeit später wird Trelkovsky über das Ableben Simones informiert. Er darf nun dauerhaft in der Wohnung bleiben, in der so vieles an die Selbstmörderin erinnert. Die Nachbarn scheinen sich zu allem Überfluss gegen den neuen Mitbewohner zu verschwören, traktieren ihn mit Beschwerden und üben massiven Druck aus. Trelkovsky verliert allmählich die Orientierung und auch die Freundschaft Stellas scheint seinen Weg in den Wahnsinn nicht stoppen zu können...
Das Sich-Verlieren in den eigenen vier Wänden und den allmählichen Verfall, der von einer sicheren und eindeutigen Realität in Wahnvorstellungen und Angstzustände führt, all das hatte Polanski auch schon 1965 in „Ekel" und drei Jahre danach in seinem Hollywood-Debüt „Rosemaries Baby" virtuos variiert, und „Der Mieter" lässt sich durchaus als radikaler Schlusspunkt einer Trilogie des großstädtischen „Wohnungshorrors" betrachten. Auf London und New York folgt nun Paris, auf Catherine Deneuve und Mia Farrow Roman Polanski persönlich. Wieder nimmt der Regisseur die subjektive Perspektive des Protagonisten oder der Protagonistin ein, wieder lässt er die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn zunehmend verschwimmen. Und wieder erzählt er auf von sexueller Repression, wobei Trelkovskys Flucht in die Identität Simone Choules in Polanskis erstaunlicher, gänzlich unmanirierter Darstellung als konsequenter Endpunkt aller drei Filme erscheint. Von einer psychopathologischen Fallstudie kann hier anders als vielleicht noch bei „Ekel" endgültig keine Rede mehr sein: Das Individuum wird aufgelöst und es bleibt nur der Schrecken angesichts des blanken Nichts.
Die verstörende Wirkung eines solchen fast schon metaphysischen Horrors kann sich nur auf der Grundlage einer ausgereiften formalen Gestaltung entfalten und Polanski zeigt gleich mit der ersten Einstellung, einer ausgeklügelten Kranfahrt der Kamera entlang der Fensterfront der Fassade und in das Haus hinein, seine inszenatorische und erzählerische Finesse. In der Folge orchestriert der Regisseur mit Übertreibungen und Wiederholungen, die dem Film durchaus einige Längen bescheren, eine Atmosphäre des ständigen Exzesses. Aber das vermeintliche Zuviel der in ihrer Deutlichkeit grenzwertigen Darstellungen etwa von Shelley Winters („Poseidon Inferno") als übellaunige Concierge, von Claude Piéplu („Der diskrete Charme der Bourgeoisie") als namenloser Nachbar, der sich lauthals bei Trelkovsky über Lärm beschwert, oder von Jo Van Fleet („Jenseits von Eden") als Madame Dioz erweist sich in der Gesamtschau als absolut angemessen. Wie genau Polanski die Stimmungen und Spannungen austariert zeigt sich auch beim Musikeinsatz, so verzichtet er gerade in den größten Schockmomenten auf die ebenso originellen wie wirkungsvollen Kompositionen Philippe Sardes und kommt ganz ohne musikalische Untermalung aus, was den Schrecken sogar noch verstärkt.
Präzise legen Polanski und sein schwedischer Kameramann Sven Nykvist, der für seine Arbeit mit Ingmar Bergman zwei Oscars gewann, sowohl die makabren Details, als auch die komische Grundierung von Trelkowskys Welt offen. Wenn sein Kollege Scope (Bernard Fresson, „Pakt der Wölfe") ihn und die eigenen Nachbarn mit lautstarker Marschmusik provoziert, wenn im Bistro ständig die Gauloises ausgegangen sind und er auf Simones Marlboros ausweichen muss oder wenn er im Park aus heiterem Himmel ein Kind ohrfeigt, dann verdeutlicht das natürlich den Seelenzustand des Protagonisten. Aber diese Szenen sind auch genau gezeichnete Miniaturen einer absurden Welt, in denen ein fernes Echo Luis Buñuels („Belle de Jour") genauso zu spüren ist wie eine Vorahnung der filmischen Tableaus Roy Anderssons („Das jüngste Gewitter"). Mittendrin ein heimatloser Held, ein Außenseiter, wie er uns in fast allen Filmen des Kosmopoliten Polanski begegnet bis hin zu „Der Pianist", „Oliver Twist" und „Der Ghostwriter". Trelkowsky beteuert immer wieder französischer Bürger zu sein und gehört doch niemals dazu. Selbst auf der Trauerfeier für Simone erfährt er keinen tröstenden Zuspruch, sondern nur Zorn. Die Verdammnis ist unausweichlich, der Kopf des Protagonisten wird wie der des Filmemachers von zu vielen Dämonen bevölkert. Und auf der Leinwand lehrt uns die beunruhigende Präsenz böser Kräfte spätestens beim erschütternd-rätselhaften Ende das Fürchten.