Als Heinrich Heine an Deutschland in der Nacht dachte, sah er sich zwar bekanntermaßen um den Schlaf gebracht, aber das Tanzen zu Elektrobeats hatte er ganz sicher nicht im Sinn, während er im Pariser Exil jene berühmte Zeile dichtete, die sich Regisseur Romuald Karmakar („Der Totmacher“) nun als Titel für einen Film über fünf Stars der elektronischen Musik ausborgte. Dennoch gibt es zwischen dem Dichter der „Nachtgedanken“ und der Doku „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ mehr als nur eine oberflächliche Verbindung. So teilen Heine und Karmakar einen Sinn für das Hintergründige. Wo der Poet von der Mutter sprach, aber vor allem die Heimat meinte, legt der Filmemacher ganz unromantisch den Schaffensprozess seiner Protagonisten frei, indem er sie bei der Arbeit in Clubs und auf Festivals zeigt sowie in Interviews einfach reden lässt. Und spätestens wenn es da etwa um die Frage geht, wie man nach dem Anschlag auf den Pariser Nachtclub Bataclan noch unbeschwert tanzen kann, dann sind wir wieder ganz nah bei Heines Schlaflosigkeit …
In „Das Himmler-Projekt“ ließ Regisseur Romuald Karmakar einst den Schauspieler Manfred Zapatka eine Geheimrede des „Reichsführers SS“ vorlesen – in voller Länge und ohne jeglichen erklärenden oder kommentierenden Kontext. Auch bei „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ ignoriert der Filmemacher wieder einmal viele ungeschriebene Regeln des herkömmlichen Dokumentarkinos. So verzichtet er auf eine namentliche Einführung seiner Protagonisten und stellt sie nicht vor. Vielmehr geht es mitten hinein in den mit Geräten und Kabeln vollgestopften Arbeitsraum eines Mannes, der eine alte iranische Schallplatte entdeckt und diese ziemlich „krass“ findet. Fans und andere Zuschauer, die ihn schon in Karmakars Segment des TV-Echtzeitprojekts „24h Berlin“ gesehen haben, mögen den von Teilen der Presse auch schon als „DJ-Gott“ gepriesenen Ricardo Villalobos erkennen. Wer das nicht tut, bekommt erst im Abspann fünf Namen genannt, die er dann selbst mit fünf Gesichtern in Verbindung bringen darf. Die Reduktion hat Methode, Karmakar nimmt sich wieder extrem zurück, aber tut auch nicht so, als gäbe es hier keinen Regisseur – bisweilen hört man ihn sogar als Fragesteller aus dem Off.
Aber ganz passend zu dem offenen Ansatz sind seine Fragen meist mehr Denkanstöße als Wissenswünsche: Wenn David Moufang auf einer Wiese vor den Toren Heidelbergs ins Reden kommt, unterbricht Karmakar ihn nicht und schneidet auch nicht weg, obwohl sich die Aussagen immer weiter vom eigentlichen Sujet entfernen. So entsteht eine der schönsten Szenen des Films, denn die assoziativen Gedankengänge der Protagonisten haben zuweilen fast schon philosophische Qualitäten und sind oft besonders erhellend: Moufang erzählt in der erwähnten Szene von der Inspiration durch die Natur, kommt dabei irgendwie zu seinem Kindheitstraum, Astronaut zu werden, und landet beim Anblick eines Apfelbaums schließlich bei Adam und Eva… Der sichtlich erschöpfte Ata wiederum spricht davon, wie er alle seine Platten verkauft hat, um sich ohne Ballast in die Wildnis zurückziehen zu können, während Roman Flügel schildert, wie es sich anfühlt, an Abenden aufzulegen, an denen Terroranschläge Europa erschüttern. Solche bewegenden Momente rechtfertigen Karmakars Methode allemal, obwohl das Nicht-Eingreifen und Draufbleiben zuweilen auch Leerlauf und Belanglosigkeiten hervorbringt.
Die Reduktion der Inszenierung geht oft auch mit einer absichtsvollen, aber durchaus zweischneidigen Abstraktion einher. Frank Griebe („Lola rennt“, „Cloud Atlas“) filmt die Musiker an ihren Mischpulten gemeinsam mit den ekstatisch tanzenden Massen mit nur einer Kamera in statischen Halbtotalen. Dazu liefert uns Karmakar den Sound von den Kopfhörern der Künstler. Der Zuschauer hört also nicht, wozu gerade getanzt wird, sondern die unfertigen, rohen, auch mal abgehackten Elemente vor dem Mix. Auf der einen Seite veranschaulicht der Filmemacher so gekonnt, dass hinter der Arbeit der Elektro-Meister viel mehr steckt, als nur Platten zu wechseln und an ein paar Knöpfen zu drehen, andererseits bleibt die fertige Musik und damit das eigentliche Werk der Porträtierten so oft auf der Strecke. Von der etwas verquer anmutenden Verschiebung zwischen Bild und Ton, die sich dabei ergibt, ganz zu schweigen: Als würden wir eine Beethoven-Symphonie mit den Ohren des tauben Komponisten hören.
Fazit: Romuald Karmakar porträtiert fünf Stars der elektronischen Musik, wobei sein reduziert-abstrakter Inszenierungsstil meist sehr erhellend ist, aber sich manchmal auch als problematisch erweist.