Mein Konto
    Tatort: Der Tod ist unser ganzes Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Tatort: Der Tod ist unser ganzes Leben
    Von Lars-Christian Daniels

    Kaum ein zweiter Sonntagskrimi sorgte im Jahr 2016 für so viel Gesprächsstoff wie Sebastian Markas „Tatort: Die Wahrheit“: Die Münchner Kommissare jagten darin einen Mörder, der sein Opfer willkürlich unter Passanten auf der Straße auswählte und mit mehreren Messerstichen brutal ins Jenseits beförderte. Für den vieldiskutierten Film stand der sogenannte „Isarmord“ an einem Italiener im Jahr 2013 Pate – und wie im realen Leben wurde der Täter auch in der TV-Adaption des Stoffes (noch) nicht gefasst. Für die öffentlich-rechtliche Krimireihe ein außergewöhnliches Ende – und so wurden unter den vielen Fans sofort Rufe nach einer Fortsetzung laut. Denen war der Bayerische Rundfunk längst nachgekommen: Heimlich, still und leise hatte der Sender in München eine Fortsetzung drehen lassen und gab dies unmittelbar nach dem Abspann über die sozialen Medien bekannt. Philipp Kochs „Tatort: Der Tod ist unser ganzes Leben“ knüpft aber nicht nur inhaltlich, sondern auch qualitativ nahtlos an den bärenstarken Vorgänger an: Die Fortsetzung zum meistgelobten „Tatort“ des vergangenen Jahres ist ein hochspannendes Thrillerdrama und bringt die Kommissare psychisch wie physisch bis an ihre Belastungsgrenzen.

    Gut ein Jahr ist vergangen, seit die Sonderkommission unter Leitung von Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ihre Arbeit eingestellt hat. Dann geschieht in München ein Verbrechen, das stark an den Mord an Ben Schröder erinnert, der damals auf offener Straße vor den Augen seiner Frau Ayumi (Luka Omoto) und seines Sohnes Taro (Leo Schöne) getötet wurde: Wieder wird ein unschuldiger Passant niedergestochen. Anders als vor einem Jahr überlebt das Opfer die Attacke aber und führt Leitmayr und seinen Kollegen Ivo Batic (Miroslav Nemec) auf eine heiße Spur. Der dringend tatverdächtige Thomas Barthold (Gerhard Liebmann) landet alsbald in U-Haft. Als man ihn in ein anderes Gefängnis verlegen will, kommt es zur Katastrophe: Der Transporter hat eine Panne, die Justizbeamten Sabine Merzer (Friederike Ott) und Robert Steinmann (Jan Bluthardt) verlieren die Nerven und am Ende gibt es weitere Tote zu beklagen. Auch Batic wird schwer verletzt und landet auf der Intensivstation. Leitmayr, der den Transport ebenfalls begleitet hat, muss sich vor dem internen Untersuchungsausschuss unter Vorsitz der argwöhnischen Kriminaloberrätin Horn (Lina Wendel) verantworten – und bald einsehen, dass Batic offenbar mehr über die Umstände des Zwischenfalls weiß, als er seinem langjährigen Weggefährten anvertraut hat...

    Eine direkte Fortsetzung ist im „Tatort“ gar nicht so außergewöhnlich, wie man meinen sollte: Vor allem der NDR hat in den vergangenen Gefallen an zusammenhängenden Folgen gefunden. 2012 ließ der Sender LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) im „Tatort: Wegwerfmädchen“ und im „Tatort: Das goldene Band“ an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen einen Fortsetzungsfall lösen, ehe 2015 die Hamburger Action-Kommissare Nick Tschiller (Til Schweiger) und Yalcin Gümer (Fahri Yardim) im „Tatort: Der große Schmerz“ und im „Tatort: Fegefeuer“ wüteten. Am ehesten vergleichbar ist der 75. Fall von Batic und Leitmayr aber mit einem vielgelobten Beispiel aus Kiel: Dort ließen die Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) 2012 im „Tatort: Borowski und der stille Gast“ Kult-Killer Kai Korthals (Lars Eidinger) entkommen, um ihn 2015 im „Tatort: Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“ spektakulär wiedereinzufangen. Den Münchner Kommissaren gelingt das vergleichsweise mühelos: Barthold ist schnell gefasst und lässt wenig Zweifel daran, dass er auch wirklich der gesuchte Mörder ist. Aber ist der „Tatort“ damit zu Ende erzählt? Mitnichten. Damit geht er erst los!

    Statt zur Whodunit-Konstruktion nach Schema F entwickelt sich der „Tatort: Der Tod ist unser ganzes Leben“ zum mitreißenden Psychothriller: Batic und Leitmayr werden von ihrem Kontrahenten, der mit seiner stoischen Ruhe, seiner abfälligen Gleichgültigkeit und einem auffälligen Zahlen-„Tick“ nicht nur optisch an Hollywood-Killer John Doe (Kevin Spacey) aus David Finchers Meisterwerk „Sieben“ erinnert, mental und körperlich bis an ihre Grenzen gebracht. Drehbuchautor Holger Joos („Ein offener Käfig“) erzählt die Geschichte auf zwei miteinander verschachtelten zeitlichen Ebenen und bringt auch noch Rückblicke auf den „Tatort: Die Wahrheit“ im Skript unter – eine wahre Herkulesaufgabe, die von den Filmemachern jedoch mit Bravour gelöst wird. Weil man die ergrauten Ermittler schon zu Beginn im Krankenbett und auf Krücken sieht, stellt sich sofort die Frage, wie es dazu kommen konnte und es liegt gleich eine besondere Spannung in der Luft. Dass es im „Tatort: Wir sind die Guten“, in dem Batic 2009 sein Gedächtnis verlor und unter Mordverdacht stand, eine recht ähnliche Geschichte gab und auch Franz Leitmayr schon mal bei der internen Ermittlung antanzen musste (2012 im „Tatort: Der traurige König“) ist angesichts des hohen Unterhaltungswerts locker zu verschmerzen.

    Auch handwerklich ragt der Film von Regisseur Philip Koch („Picco“) aus der öffentlich-rechtlichen Krimimasse heraus: Schon der beklemmende Auftaktmord, den der BR vorab in den sozialen Netzwerken anteaserte, läuft zu einem bedrohlichen Klangteppich in Zeitlupe ab – nur eine von vielen großartig in Szene gesetzten und hochspannenden Sequenzen. Auch in der Folge lässt Koch, der im Zusammenspiel mit Kameramann Jonas Schmager („Kriegerin“) immer wieder gekonnt mit den Lichtverhältnissen spielt, dem Zuschauer kaum Zeit zum Luftholen: Nach einem Twist wandelt sich der Film vom rasanten Psychothriller zum aufwühlenden Thrillerdrama, bei dem das seit 26 Jahren bestehende Vertrauensverhältnis zwischen Batic und Leitmayr in Frage gestellt wird wie noch nie. Die düstere Atmosphäre zieht sich ebenso durch den Film wie die alles überstrahlende Frage nach der Wahrheit, die zum zweiten Mal binnen sieben Monaten zum Leitmotiv im Münchner „Tatort“ wird: Was verschweigt Batic seinem Freund und Kollegen – und hat er sich womöglich selbst zum Schuldigen gemacht? Wer diese Frage beantwortet wissen will, braucht neben einem guten Nervenkostüm auch einen robusten Magen: Das Blut fließt in diesem überraschend brutalen Beitrag aus Bayern gleich literweise – es sind die einzigen Farbtupfer in den auffallend ausgeblichenen Bildern und sie brennen sich nachhaltig ins Gedächtnis.

    Fazit: Philip Kochs „Tatort: Der Tod ist unser ganzes Leben“ ist ein aufwühlendes Thrillerdrama und fällt dabei sogar noch eine Ecke spannender aus als der hochklassige Vorgänger „Tatort: Die Wahrheit“.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top