Als Britin, die einer panjabischen indischen Familie entstammt, hat sich Regisseurin Gurinder Chadha schon immer für den Culture Clash zwischen den Welten ihrer asiatischen und ihrer europäischen Wurzeln interessiert. In Filmen wie „Kick It Like Beckham“ und „Liebe lieber indisch“ hat sie sich dem Thema bisher vor allem mit leichter Hand und aus einer Alltagsperspektive heraus genähert, doch in Historiendrama „Der Stern von Indien“ schultert sie nun den geschichtlichen Ballast der britisch-indischen Beziehungen und die schwärzesten Stunden der eigenen Familienchronik in nicht einmal zwei Kinostunden: Sie widmet sich der entscheidenden Phase des Übergangs des Subkontinents von der Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit und erzählt von den schmerzhaften Folgen eines rücksichtslosen geopolitischen Geschachers für Millionen von Menschen. Der toll ausgestattete und schwungvoll gespielte Film bietet abwechslungsreich-anspruchsvolle Unterhaltung und bekommt durch die sehr persönliche humanistische Sicht auf Konflikte, die bis heute fortwirken und weltweit Echos finden, eine besondere Note.
Als der neue Vizekönig von Indien, Lord „Dickie“ Mountbatten (Hugh Bonneville), im Auftrag von König George VI. mit seiner Frau Edwina (Gillian Anderson) und seiner Tochter Pamela (Lily Travers) 1947 in den prachtvollen Amtssitz in Delhi einzieht, ist sein Auftrag klar: Er soll der letzte britische Statthalter auf dem Subkontinent sein und das seit 300 Jahren von der Krone besetzte Land möglichst reibungslos und schnell in die Unabhängigkeit entlassen. Doch die Spannungen zwischen den Hindus und den Moslems nehmen zu: Während Volksheld Gandhi (Neeraj Kabi) und der Indische Nationalkongress unter Nehru (Tanveer Ghani) einen Einheitsstaat befürworten, spricht sich Muhammad Ali Jinnah (Denzil Smith), der wichtigste Repräsentant der muslimischen Minderheit, für eine Teilung Indiens und für die Gründung eines neuen islamischen Staates Pakistan aus. Unterdessen geraten zwei heimlich verliebte Bedienstete im Palast des Vizekönigs, der Hindu Jeet (Manish Dayal) und die Muslima Aalia (Huma Qureshi), zwischen die Fronten der immer offener zutage tretenden Feindseligkeiten.
Seit 2010 hat Gurinder Chadha bereits den Plan für einen historischen Film über die Wirren der indischen Teilung in sich getragen. Innerhalb von wenigen Wochen wurde 1947 eine neue Grenze zwischen den mehrheitlich von Hindus bevölkerten Landesteilen im Süden und den hauptsächlich muslimischen Regionen im Norden gezogen, während sich die jeweiligen Minderheiten unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen zur Umsiedlung gezwungen sahen – mit 14 Millionen Flüchtlingen eine der größten Migrationsbewegungen der Geschichte. Bis zu eine Million Menschen haben diese Umwälzungen nicht überlebt, darunter auch mehrere Angehörige von Chadhas Familie. Das herzzerreißende Chaos des Umbruchs bringt die Regisseurin in einigen packenden Szenen auf die Leinwand, die notdürftige und willkürliche Verwaltung des Elends erinnert dabei an die aktuellen Berichte aus Flüchtlingslagern. Auch das kühle strategische Kalkül der britischen Regierung unter Winston Churchill („Sie opfern Menschenleben für Öl?“) erinnert unangenehm an die interessenpolitischen Machtspiele der Gegenwart. Die Filmemacher stellen diese Parallelen sehr deutlich heraus, wenn sie uns im tragischen letzten Drittel sehr effektvoll und pointiert die fatalen Folgen und Nebenwirkungen des Unabhängigkeitsprozesses nahebringen.
Bevor sie „Der Stern von Indien“ (ein ironischer deutscher Titel, der sich auf einen Orden des von den Briten eingesetzten Vizekönigs bezieht) allerdings zu einem dramatischen historischen Epos zuspitzt, zeigt die Regisseurin vor allem viel Gespür für die vielen Absurditäten und Widersprüche der Situation vor der Teilung. Der Palast des Vizekönigs mit seinen 500 einheimischen Bediensteten aller Glaubensrichtungen wird dabei zum Mikrokosmos des Vielvölkerstaats Indien, dessen Maschinerie zunächst durch die mit viel Augenzwinkern präsentierte britische Mischung aus Pomp und Pragmatismus am Laufen gehalten wird. Unterdessen wird in den Hinterzimmern lustvoll taktiert - mit ungewöhnlichen Gedankenspielen (Gandhis Plan, den Muslimen die Führung über ganz Indien zu überlassen) und verschlagenen Heucheleien (Michael Gambons Lord Ismay). Der überaus redliche Lord Mountbatten (in der Debatte um seine wahre historische Rolle stellen sich die Autoren klar auf seine Seite) und seine von zupackender Menschlichkeit beseelte Gattin sind das Zentrum dieser Aktivitäten – eine heile Welt mit wohlwollend-zurückhaltenden Europäern und selbstbewussten, toleranten Indern scheint fast in Reichweite zu sein.
Von so großzügigen und jovialen Menschen regiert zu werden, wie Hugh Bonneville („Downton Abbey“) und Gillian Anderson („Akte X“) sie hier mit dem Charisma echter Stars spielen, ist nicht die schlechteste Vorstellung, scheint uns Gurinder Chadha sagen zu wollen. Sie kommt mit dieser Mischung aus Idealismus und Naivität davon, weil ihr die Versöhnung sichtbar am Herzen liegt - und weil sie das Scheitern Mountbattens nicht verschweigt. So muss man auch einige überaus kalkuliert wirkende Einzelheiten wie die kleinen Seitenblicke auf die beiden einheimischen Palastköche oder den schurkischen Lord Ismay nicht auf die Goldwaage legen. Immerhin findet Chadha Humor in Gandhis Resignation („Es gibt heute nichts zu feiern“, sagt er am Unabhängigkeitstag und legt sich schlafen) und in der absurd-bestürzenden 80-zu-20-Aufteilung des Palastinventars zwischen Indien und Pakistan („Die Buchstaben A bis E der Enzyklopädie kommen zu uns“). Nur die als private Parallelhandlung zum großen politischen Geschehen installierte interreligiöse Liebesgeschichte des Butlers und der Übersetzerin mit ihren zaghaften Bollywood-Anleihen kommt trotz dramatischer Konstellation eindeutig zu kurz und entfaltet daher kaum Wirkung.
Fazit: In „Der Stern von Indien“ erzählt Regisseurin Gurinder Chadha ebenso unterhaltsam wie engagiert von einem dramatischen historischen Umbruch und seinen Folgen.
Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2017 gesehen, wo „Der Stern von Indien“ als Teil des offiziellen Wettbewerbs außer Konkurrenz gezeigt wird.