Wo die Liebe hinfällt...
Von Oliver KubeIn den vergangenen Jahren mag ihre Anzahl etwas gestiegen sein, dennoch sind Transgender-Charaktere in Kino- und TV-Projekten weiterhin eine Seltenheit. Nicht ganz unverständlicherweise regten sich die Aktivisten und Organisationen, die die Interessen dieser Gruppe in der Öffentlichkeit vertreten, wohl auch deshalb darüber auf, dass die Rolle der Freda, einer Transgender-Prostituierten in Regisseur Timothy McNeils „Anything“, an einen Cisgender-Darsteller vergeben wurde.
Allerdings muss es für Filmemacher natürlich in erster Linie trotzdem darum gehen, die bestmögliche, schauspielerisch überzeugendste Besetzung für einen Part zu finden - und nicht unbedingt die politisch korrekteste. Mit der Entscheidung für Matt Bomer, der zuvor in so unterschiedlichen Werken wie „Die glorreichen Sieben“, „Magic Mike“ oder „The Normal Heart“ viel Charme und gleichzeitig Vielseitigkeit unter Beweis stellen konnte, hat McNeil jedenfalls alles richtig gemacht. Bomer und vor allem sein Leinwandpartner John Carroll Lynch sind es, die dieses Indie-Drama – trotz einiger dramaturgischer Holprigkeiten – so sehens- und liebenswert machen.
Matt Bomer als Transgender-Prostituierte Freda in "Anything".
26 Jahre war Early (John Carroll Lynch) mit seiner geliebten Frau verheiratet. Sein gesamtes Erwachsenendasein hat er mit ihr in einer eher spießigen Kleinstadt in Mississippi verbracht. Nach dem Tod seiner Gattin beschließt der Versicherungsunternehmer, sein Leben ebenfalls zu beenden. Doch der Suizidversuch misslingt und sein Arzt stellt Early vor die Wahl: Entweder wird er in eine Psychiatrie eingewiesen oder er zieht nach Los Angeles, wo seine Schwester Laurette (Maura Tierney) sich um ihn kümmern kann. Dort wohnt Early Wand an Wand mit der lebhaften extrovertierten, aber tablettenabhängigen und gelegentlich depressiven Transgender-Prostituierten Freda (Matt Bomer). Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Lebensumstände entwickelt sich eine Freundschaft und die beiden kommen sich bald auch auf romantische Weise näher. Early freut sich darauf, Freda seiner Schwester vorzustellen. Doch die reagiert ganz anders, als er es erhofft und erwartet hatte...
Timothy McNeil hat in solch bekannten Filmen wie „Forrest Gump“, „Contact“ und „Starship Troopers“ in kleinen Nebenrollen mitgewirkt. Sein „Hauptjob“ ist allerdings das Schreiben von Theaterstücken. Dass die Adaption seines bisher erfolgreichsten Bühnenwerks zugleich auch sein Debüt als Filmregisseur ist, merkt man dem fertigen Produkt leider in einigen Details an. Mit James Laxton (oscarnominiert für „Moonlight“) hat McNeil zwar einen der visuell aufregendsten Kameramänner der Gegenwart an seiner Seite – man denke nur an die beinahe unfassbare Schönheit der Bilder von „Beale Street“. Nichtsdestotrotz wirkt „Anything“ immer wieder wie, nun ja, ein Theaterstück eben. Ein Theaterstück, das jemand eher beiläufig mitgefilmt hat.
Wirklich leinwandfüllende Sequenzen sind rar gesät. Gleich zu Beginn gibt es so eine, als wir Early auf einem Fußmarsch durch sein Heimatkaff in Mississippi über den Friedhof bis zu seinem Haus begleiten. Später sticht dann auf ähnliche Art allerdings nur noch der Moment hervor, als der Witwer allein und etwas verloren am Swimming Pool seiner Schwester sitzt und gedankenversunken auf die Hollywood Hills hinausschaut. Ansonsten finden so gut wie alle Szenen in geschlossenen Räumen oder dem engen Hof seines Apartmentgebäudes statt.
John Carroll Lynch als depressiver Witwer in "Anything".
Doch Fans des amerikanischen Indie-Kinos sollte es gelingen, über den Mangel an Schauwerten hinwegzusehen. Genauso wie über den leicht holprigen und sprunghaft wirkenden Ablauf der Story. Insbesondere betrifft dies die sich ansonsten nicht uninteressant entwickelnden Beziehungen Earlys zu seinen neuen Nachbarn (verkörpert unter anderem von Margot Bingham und Micah Hauptman). Denn was den Film wirklich ausmacht, sind die klugen Dialoge sowie die Art, auf die der erst kürzlich selbst mit dem wunderbaren „Lucky“ als Regisseur reüssierte, sonst meist auf Nebenrollen abonnierte John Carroll Lynch („The Highwaymen“) sie präsentiert.
Lynchs subtil-emotionale, herzzerreißend sanfte Darstellung ist einfach brillant. Und das nicht nur in den zunächst leicht schrillen und witzigen, dann immer intimer werdenden Szenen mit dem sich komplett in seinen Part hineinwerfenden Matt Bomer. Auch im Zusammenspiel mit der Earlys Schwester verkörpernden, einmal mehr erstaunlich vielschichtig agierenden Maura Tierney („Beautiful Boy“) sowie mit Tanner Buchanan („Cobar Kai“), der Laurettes Teenager-Sohn gibt, begeistert der Hauptdarsteller.
Ob man sich von der Geschichte eines „Jedermanns“, der unvermittelt aus seinem eben noch so komfortablen, geregelten Leben gerissen wird, dann aber den Mut zeigt, sein Herz für neue, unerwartete Begegnungen zu öffnen, letztlich positiv berührt fühlt, hängt wohl von der persönlichen Einstellung eines jeden Zuschauers ab. Am Ende stellt der Film jedenfalls nicht nur Laurette, sondern uns allen diese Frage: Verlangst du, dass ein von dir geliebter Mensch nur dann glücklich sein darf, wenn es nach deinen Konditionen geschieht? Oder darf er/sie es auch sein, wenn es auf eine Weise passiert, die nicht wirklich deinen Wünschen, deinen Vorstellungen und deinen Werten entsprechen?
Fazit: Ein teils locker-leichtes, aber dann auch wieder sehr tiefsinniges Drama über das Coming of Age eines Mannes in seinen Fünfzigern, das vor allem durch seine exzellenten Darstellerleistungen begeistert.