1989 revolutionierte der sogenannte Children Act die britische Gesetzgebung. Darin heißt es: „In jeder Frage der Sorge für die Person eines Kindes […] hat das Wohl des Kindes dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen.“ Der Schriftsteller und Drehbuchautor Ian McEwan befasst sich in seinem 2014 erschienenen Bestseller „The Children Act“, der hierzulande unter dem Titel „Kindeswohl“ erschien, mit genau diesem Thema - und nun hat der Regisseur Richard Eyre („Tagebuch eines Skandals“) den Roman als packendes, hochemotionales Drama mit Starbesetzung verfilmt. In „Kindeswohl“ geht es um den auch selbst strenggläubigen Sohn zweier Zeugen Jehovas, der seinen religiösen Überzeugungen folgend eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnt. Ein Gericht soll nun prüfen, ob er diese Entscheidung, die gleichbedeutend mit seinem eigenen Todesurteil wäre, auch als Minderjähriger tatsächlich selbst treffen darf.
Wer den Roman kennt, der weiß schon, dass die Vorlage mit dem folgenden Gerichtsurteil noch lange nicht zu Ende ist. So ist das nun auch im Film, in dem nur ein Bruchteil der Erzählzeit für den naheliegenden Gewissenskonflikt der im Mittelpunkt stehenden Richterin verwendet wird. Als sie ihre Entscheidung in der Frage „Bluttransfusion: ja oder nein?“ fällt, ist gerade einmal die Hälfte von „Kindeswohl“ um - und alles was danach passiert, ist zwar durchaus überraschend, passt aber so gar nicht zur vorher so nüchtern und bodenständig inszenierten Gerichtsverhandlung. So wird der Film zu einem etwas holprigen, aber durchaus sehenswerten Genre-Zwitter zwischen Justiz-Thriller und intimem Drama.
Die erfahrene Familienrichterin Fiona Maye (Emma Thompson) steht vor den Scherben ihrer Ehe, als ihr Mann Jack (Stanley Tucci) ihr eröffnet, eine Beziehung mit einer seiner Schülerinnen eingehen zu wollen. Ausgerechnet jetzt landet ein brisanter Fall auf ihrem Tisch: Der 17-jährige Adam (Fionn Whitehead) leidet an Leukämie und benötigt dringend eine lebensrettende Bluttransfusion. Doch genau die lehnen er und seine Eltern ab. Als Zeugen Jehovas ist ihnen eine derartige Behandlung streng verboten. Um zu entscheiden, ob sie die Behandlung auch gegen seinen Willen anordnen darf, besucht Fiona Adam im Krankenhaus und lernt dort einen intelligenten jungen Mann kennen, der sich selbst in einem Gewissenskonflikt befindet. Die Richterin trifft schließlich eine Entscheidung, doch mit ihrem Verdikt ist dieser komplizierte Fall für sie noch lange nicht vorbei, denn Adam empfindet für Fiona eine außergewöhnliche Sympathie und folgt ihr fortan auf Schritt und Tritt…
Regisseur Richard Eyre hat schon mit Schauspielikonen wie Cate Blanchett, Judi Dench, Liam Neeson und Kate Winslet gedreht. Für „Kindeswohl“ bestand er jetzt auf Emma Thompson („Saving Mr. Banks“) für die Hauptrolle. Mit dieser Wahl lag er in jedem Fall goldrichtig, denn die Gewinnerin des Oscars für die Beste Hauptdarstellerin 1992 (für „Wiedersehen in Howards End“) kombiniert so überzeugend die zerbrechliche, private Seite der Juristin Fiona Maye mit einer unnahbaren Professionalität vor Gericht, dass vor unseren Augen eine unglaublich komplexe Figur in allen ihren Facetten lebendig wird. Sie vereint mit scheinbarer Leichtigkeit Widersprüche, die man einer weniger brillanten Darstellerin kaum abnehmen würde.
Stanley Tucci („Spotlight“) als von seiner Ehe enttäuschter, seine Gattin aber immer noch über alles liebender Jack steht Thompson in nichts nach. Selbst in Jacks Wunsch, fortan mit einer anderen Frau schlafen zu wollen, klingt immer noch ein immenser Respekt für seine Ehefrau mit. Er will Fiona nicht auf billige Weise betrügen, sondern versucht behutsam, seine persönlichen Bedürfnisse mit ihren unter einen Hut zu bringen. Seine Bemühungen wirken durchaus sympathisch und sind das beste Beispiel dafür, dass in „Kindeswohl“ kaum etwas einfach klar und eindeutig ist, sondern fast alles ambivalent.
Die Eheprobleme der Mayes nehmen einen recht großen Raum in „Kindeswohl“ ein. Damit wird eine der Kernaussagen des Films unterstrichen: „Richter sind auch nur Menschen!“ Der moralische Konflikt, der an der Entscheidung über die Bluttransfusion hängt, ist da nur ein weiterer Aspekt und wird in wenigen Szenen abgehandelt: Nachdem die Anwälte ihre Standpunkte ausgetauscht haben, stattet Fiona Adam im Krankenhaus einen Besuch ab und schon kurz darauf fällt sie das Urteil. „Kindeswohl“ ist kein klassischer Gerichtsthriller, vielmehr geht es um die Frage, wie sehr einzelne Personen mit Autorität andere beeinflussen können und wie diese dann damit umgehen. So überdenkt Adam nach der Begegnung mit Fiona nicht bloß seine Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas (zuvor war auch er selbst davon überzeugt, dass die Bluttransfusion nicht stattfinden darf), sondern sieht in ihr auch so etwas wie eine Seelenverwandte und lässt sich von ihren weisen Worten zum Schreiben von Gedichten inspirieren.
Regisseur Richard Eyre legt die eigentliche Prämisse um das Gerichtsurteil wie erwähnt recht rasch zu den Akten und spielt anschließend mit den Erwartungen der Zuschauer. Dass Adam die Richterin mehrmals aufsucht und ihr folgt, was Fiona dazu hinreißt, ihn als Stalker zu bezeichnen, inszeniert Eyre auf unberechenbare Weise. Wenn Adam Fiona in einer dunklen Gasse auflauert, traut man „Kindeswohl“ ein Abdriften in düstere Thrillergefilde zu und wenn er sie ein paar Minuten später unvermittelt auf den Mund küsst, dann liegt plötzlich eine außergewöhnliche Romanze in der Luft. Doch auch wenn beide Teile von „Kindeswohl“ jeweils für sich überzeugen, gelingt ihre Zusammenführung nur bedingt. Setzt Richard Eyre in der ersten Hälfte vorwiegend auf eine kühl-analytische Inszenierung eines sachlichen Problems, schwenkt er anschließend mit dem wechselnden Fokus auf das persönliche Drama auf eine gefühligere Herangehensweise um und streift am Ende sogar das Melodramatische. Es ist vor allem den starken Darstellern zu verdanken, dass „Kindeswohl“ dadurch nicht auseinanderfällt.
Fazit: „Kindeswohl“ beginnt als klassischer Gerichtsfilm, aber im weiteren Verlauf rückt immer mehr das Innenleben seiner Protagonistin in den Fokus. Richard Eyre inszeniert das erst kühl und distanziert, dann als hochemotionales Charakterdrama. So zerfällt der Film in zwei gegensätzliche Teile, die vor allem durch die brillanten Darstellungen von Emma Thompson und Stanley Tucci zusammengehalten werden.