2017 liegt der Zweite Weltkrieg schon 72 Jahre zurück. Das bedeutet, dass jemand, der bei Kriegsende 28 war, heute 100 Lenze zählt, wenn er noch lebt. Und selbst wer damals erst acht Jahre alt war, hat nun bereits die 80 erreicht. Die Zeitzeugen der wichtigsten Zäsur des 20. Jahrhunderts sterben somit langsam aus. Claus Räfle, ein versierter und mehrfach preisgekrönter TV-Dokumentarist („Die Heftmacher“, „Blitzhochzeit in Dänemark“) interviewte mit seiner Co-Autorin Alejandra López schon vor Jahren einige dieser Zeitzeugen und machte dieses Material zur Grundlage für seine kraftvolle Doku-Fiktion „Die Unsichtbaren - Wir wollen leben“. Darin kombiniert er die Gespräche mit nachgestellten Spielszenen und schildert exemplarisch den Überlebenskampf von vier Berlinern und Berlinerinnen jüdischen Glaubens.
1942, Berlin im Zweiten Weltkrieg. Auf unterschiedliche Weise versuchen vier junge Männer und Frauen (Jahrgang 1922 bis 1926), in der deutschen Hauptstadt „unsichtbar“ zu werden. Als Juden leben sie in ständiger Todesgefahr. Cioma Schönhaus (in den Spielszenen verkörpert von Max Mauff) wird erst wegen seiner Tätigkeit als technischer Zeichner einer Munitionsfirma verschont, entwickelt sich dann aber zum zunehmend professionellen Passfälscher, wobei sein Hang zur Bedenkenlosigkeit ihn mehrmals in Gefahr bringt. Hanni Lévy (Alice Dwyer) färbt sich die Haare blond, um als Arierin durchzugehen, während Arzttochter Ruth Arndt (Ruby O. Fee) davon profitiert, dass ihr Vater einigen Menschen das Leben rettete, die sich nun erkenntlich zeigen. Um nicht in irgendwelchen Hinterzimmern zu versauern, verkleidet sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin Ellen (Victoria Schulz) als junge Soldatenwitwe. Eugen Friede (Aaron Altaras) schließlich, Sohn einer jüdischen Mutter, wird als 16-Jähriger von seinem nichtjüdischen Vater versteckt und landet nach einigen Irrwegen im Widerstand gegen die Nazis...
Am 19. Juni 1943 wurde die Reichshauptstadt offiziell als „judenfrei“ erklärt, es gab aber zu diesem Zeitpunkt noch etwa 7000 „Unsichtbare“, die sich versteckt hielten und meist nichts voneinander wussten (eine der Zeitzeuginnen bemerkt entsprechend auch: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch andere gibt“). Dass nur etwa 1500 dieser Menschen das Kriegsende erlebten, zeugt davon, wie gefährlich die Situation für sie unter einem Regime war, das schon die Kinder in der Hitlerjugend zu Spitzeln erziehen ließ. Bei jeder kleinsten Auffälligkeit drohte eine Hausdurchsuchung und die Deportation.
Die hybride Form der mit Spielszenen kombinierten Dokumentation wurde selten so überzeugend eingesetzt wie in „Die Unsichtbaren“. Die Erzählfäden aus den Zeitzeugen-Interviews werden in den Szenen mit den jungen Darstellern direkt aufgenommen. Zu den nachinszenierten Sequenzen und den aktuellen Gesprächsaufnahmen kommen dann noch geschickt eingebundene Archivaufnahmen des Berliner Alltags, die einem die Atmosphäre der Zeit noch näher bringen und die zunehmend dramatische Lage in der Stadt wirkungsvoll unterstreichen.
Wenn sich beim Übergang von den Interviews zu den Spielszenen und zurück, die betagten realen Protagonisten mit ihren jugendlichen Darstellern abwechseln, bekommen die nachinszenierten Momente tatsächlich eine Aura lebendig werdender Erinnerung und gerade in der Kombination entfalten die beiden Ebenen ihre ganze emotionale Wucht. Dabei schadet es weder der Wirkung noch dem Erzählfluss, dass die vier Hauptfiguren sich nie im Film treffen und man es also mit vier komplett eigenständigen Geschichten zu tun hat, denn trotzdem sind die vier Schicksale natürlich durch viele gemeinsame Motive verbunden und zwei historisch wichtige Nebenfiguren - Florian Lukas („Good Bye, Lenin“) als heldenhafter Widerständler Werner Scharff und Laila Maria Witt („Agnes und seine Brüder“) als Jüdin Stella Goldschlag – kommen immerhin in je zwei der Geschichten vor. Letztlich wirkt alles wie aus einem Guss und fügt sich zu einer übergreifenden, sehr intensiven und packenden Erzählung.
Claus Räfle hat nicht nur bemerkenswerte Zeitzeugen und Persönlichkeiten gefunden, er hat auch ihre jungen Alter Egos perfekt besetzt. Max Mauff („Die Welle“), Alice Dwyer („Die verlorene Zeit“), Ruby O. Fee („Verrückt nach Fixi“) und Aaron Altaras („Nicht alle waren Mörder“) glänzen allesamt, aber die Schauspielerbesetzung, der in Nebenrollen auch Steffi Kühnert („Das weiße Band“), Maren Eggert („Nichts passiert“) und der kürzlich verstorbene Andreas Schmidt („Die Fälscher“) angehören, ist generell so bemerkenswert, dass man sich nur wünschen kann, dass sich der Regisseur auch einmal an einem reinen Spielfilm versucht.
Fazit: Emotional, authentisch, intelligent inszeniert und ein Thema, das noch nicht unzählige Male behandelt wurde: „Die Unsichtbaren - Wir wollen leben“ ist einer der besten deutschen Filme des Jahres, ein echtes Ereignis und immens spannend!