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    Ana, mon amour
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Ana, mon amour
    Von Carsten Baumgardt

    Seit nunmehr mehr als zehn Jahren sorgen Werke aus Rumänien auf den bedeutenden Filmfestivals mit schöner Regelmäßigkeit für Aufsehen: Regisseure wie Cristian Mungiu (Goldene Palme für „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“, „Graduation“), Cristi Puiu („Sieranevada“, „Der Tod des Herrn Lazarescu“), Corneliu Porumboi („Der Schatz“) oder Calin Peter Netzer (Goldener Bär für „Mutter und Sohn“) stehen für ein kühles, realistisches, oft fast schon naturalistisches, anspruchsvolles, aber auch ungemein lebensnahes Kino. 2017 kehrt Netzer mit seinem brutal intensiven und doppelbödigen Melodram „Ana, Mon Amour“ in den Wettbewerb der Berlinale zurück und ein weiterer Bären-Sieg scheint nicht ausgeschlossen: Sein Film ist harter Tobak, radikal und konsequent: ein Kinoerlebnis, das einen bis zur letzten Minute gefangen nimmt – und dann völlig überraschend umhaut!

    Toma (Mircea Postelnicu) und Ana (Diana Cavallioti) lernen sich an der Uni in der Literaturklasse kennen und werden ein Paar. Aber selbst in der Phase des Frisch-Verliebtseins haben es die beiden nicht leicht, glücklich zu sein, denn ihre konservativen Elternhäuser akzeptieren ihre Verbindung nicht. Der Streitpunkt ist Anas psychische Erkrankung, sie leidet unter schweren Panikattacken, die sie mit Medikamenten in den Griff zu bekommen versucht. Je länger ihre Beziehung dauert, desto stärker empfindet der lebensfrohe Toma Anas Zustand als Last und hat immer schwerer damit zu kämpfen, das Leben des Paares im Gleichgewicht zu halten.

    „Ana, Mon Amour“ beginnt mittendrin in einer zunächst beliebig erscheinenden Szene, ohne Prolog, Einführung oder sonst eine Orientierung. Die Studenten Toma und Ana diskutieren über Philosophie - bis sie von einer schweren Angstattacke paralysiert wird. Was das für die Beziehung der beiden auf lange Sicht bedeutet, erzählt Calin Peter Netzer in den folgenden zwei unruhigen, anstrengenden und zehrenden Stunden. Wir beobachten, wie die innige Bindung zwischen diesem wundervollen Paar unter psychischen Qualen immer stärker unter Druck gerät und die Liebenden von Wolke 7 ins Bodenlose stürzen. Den Abstieg seziert Netzer in feinsten Nuancen, die durch einen sehr wirkungsvollen Kunstgriff noch deutlicher zutage treten…

    …, denn der Filmemacher wechselt mit jeder neuen Szene die Zeitebene und springt mal nach vorne, mal zurück in der Chronologie – wobei die genaue zeitliche Einordnung sehr schwierig ist (die klarsten Hinweise gibt noch der jeweilige Zustand von Tomas sich lichtender Haarpracht). So dominieren zwar mit zunehmender Filmdauer die düsteren Momente, bei denen im Hintergrund immer wieder Themen wie Kindesmissbrauch, Generationenkonflikte oder die unbewältigte kommunistische Vergangenheit Rumäniens mitschwingen, aber inmitten dieser an die Substanz gehenden Schwere platziert Netzer gezielt glückselige Rückblenden – das sorgt im ersten Moment für emotionale Entlastung beim Betrachter und im Nachhinein für eine umso intensivere Trauer.

    Den Hauptdarstellern Mircea Postelnicu und Diana Cavallioti („Die Auserwählten – Helden des Widerstands“) verlangt Regisseur Netzer alles ab, was sie leisten können – psychisch wie physisch. Sie müssen sich nicht nur körperlich entblößen und spielen sich in einen qualvollen Rausch, wobei die Kernfrage immer deutlicher hervortritt: Sind sie von Liebe oder von Abhängigkeit getrieben? Oder lässt sich das letztlich gar nicht unterscheiden? Braucht Ana Toma zum schlichten Überleben und Toma Ana, um Verantwortung als familiärer Beschützer und Ernährer tragen zu können? Die ursprüngliche Konstellation verschiebt sich und die Situation wird nicht einfacher, als das (mittlerweile) verheiratete Paar einen Sohn bekommt.

    Alle die genannten Fragen finden einen Kristallisationspunkt in einem der im hinteren Teil der Zeitachse angesiedelten Erzählstränge, in dem Toma bei seinem Psychiater (Viorel Comanici) von seinen Erlebnissen mit Ana, von seiner Liebe zu ihr und vom gemeinsamen Leben berichtet. Er wird hier gleichsam zum Erzähler und der Zuschauer nimmt seine Perspektive ein – wodurch Netzer zugleich auch die nie ganz zu überwindende Einsamkeit in der Zweisamkeit unterstreicht. Und wenn der Film praktisch schon vorbei ist, hat der Regisseur noch einen Twist in petto, der dem Betrachter den Boden unter den Füßen wegzieht. Egal, ob man diese Wendung als genial oder unnötig bewertet, konsequent ist sie allemal und an ihr wird jeder Zuschauer zu knabbern haben!

    Fazit: Calin Peter Netzer setzt die Reihe herausragender rumänischer Autorenfilme aus den vergangenen Jahren mit seinem brillanten Melodram „Ana, Mon Amour“ eindrucksvoll fort. Diese schmerzhafte Dekonstruktion einer einstmals glorreichen Beziehung ist so etwas wie die südosteuropäische Variante von Derek Cianfrances „Blue Valentine“: optisch weniger elegant vielleicht, aber umso intensiver.

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