Die einzelnen Kapitel des polnischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrags „Die Spur“ von Agnieszka Holland („In Darkness“) werden durch die Blätter eines Jagdkalenders eingeleitet, auf denen nicht nur der aktuelle Monat, sondern auch das gerade zum Abschuss freigegebene Wild verzeichnet ist. Und tatsächlich: In der Verfilmung von Olga Tokarczuks Tierschützer-Thriller „Der Gesang der Fledermäuse“ werden Wildschweine, Rehe und Füchse so lange geschossen, geschlagen, gequält und gehäutet, bis sie vielleicht (?) zurückschlagen. „Die Spur“ ist ein in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Serienmörder-Film: Nicht nur wird die finstere und verzweifelte Welt mit jedem Toten ein wenig heller und hoffnungsvoller, es ist auch lange nicht klar, ob der Täter nun eher zwei, vier oder sogar noch mehr Beine hat – zumindest bis zum provokant-sonnigen Happy (???) End, das sicherlich den einen oder anderen (fleischessenden) Zuschauer vor den Kopf stoßen wird, aber das man allein für seine utopische Konsequenz unbedingt bewundern muss.
Die resolute Vegetarierin und überzeugte Astrologin Janina Duszejko (Agnieszka Mandat-Grabka) hat früher Brücken in aller Welt gebaut. Nun verbringt sie ihr Rentnerdasein in einem kleinen Bergdorf an der polnisch-tschechischen Grenze, wo sie sich die Zeit mit einer halben Stelle als Englischlehrerin vertreibt. Die Jagd ist in diesem Ort eine ganz wichtige Sache, selbst in der Kirche wird immer wieder gepredigt, dass die Jäger letztendlich den Willen Gottes ausführen. Einige Monate nachdem sie schon ihren Wilderer-Nachbarn tot in seinem Haus aufgefunden hat (erstickt an einem Tierknochen), entdeckt Duszejko auch noch die eingeschneite Leiche des Polizeichefs – und die einzigen Spuren, die zu dem Toten führen, sind die von Rotwild. Geht also tatsächlich ein Serienmörder in dem Dorf um – oder könnte es nicht sein, dass die Natur endgültig genug hat und nun mit ihren Mitteln (sprich: Attacken durch wilde Tiere) zurückschlägt…?
„Die Spur“ beginnt nahezu exakt wie einer dieser düsteren nordischen Krimis, wie sie seit dem Welterfolg von „Wallander“ im Fernsehen rauf und runter laufen – dieselbe abgründige Atmosphäre, dieselbe eingeschneite Landschaft, dasselbe verdorbene Figurenarsenal (korrupter Bürgermeister, Polizeichef, Priester, Geschäftsmann). In dem unwirtlichen Tal denkt (fast) jeder zuerst an sich selbst und tritt dann nach unten aus – und ganz unten stehen die Tiere: Wildschweine werden geschossen, Füchse bei lebendigem Leib gehäutet und ihre felllosen Kadaver achtlos in den Schlamm geworfen. Regisseurin Holland (Oscarnominierung für „Hitlerjunge Salomon“) kriegt das mit der Hoffnungslosigkeit sogar so gut hin, dass man als Zuschauer unendlich dankbar ist für Duszejko – die grandiose Agnieszka Mandat-Grabka verkörpert die dogmatische Lehrerin mit einer solch natürlichen Menschlichkeit, dass man sich an ihre Wärme klammert wie ein Ertrinkender ans Floß.
Aber wo die Skandinavien-Krimis oft sehr, sehr düster anfangen und dann trotzdem immer noch schwärzer werden, geht Holland genau den entgegengesetzten Weg: Proportional zur Anzahl der Toten kommt ganz subtil immer mehr Hoffnung in diese Welt - und das nicht nur, weil auf den Winter irgendwann der Frühling und dann der Sommer folgt. So tauchen mit einmal auch neue positive Figuren wie ein IT-Spezialist der Polizei oder ein tschechischer Käfer-Professor auf (und mit ihnen hält sogar ein wunderbar-warmherziger Humor Einzug in den Film, was man nach dem Auftakt nicht für möglich gehalten hätte). Sicherlich werden manche „Die Spur“ vorwerfen, er würde sein Anliegen wie ein Pamphlet allzu aggressiv vor sich hertragen. Aber zum einen ist die Idee, dass jemand, der gegenüber Tieren keinerlei Empathie aufbringt, auch seine Mitmenschen eher mies behandeln wird, wohl kaum zu weit hergeholt – und zum anderen mundet „Die Spur“ auch Fleischfressern (wie dem Autor dieser Kritik) als spannendes, atmosphärisch gefilmtes und großartig gespieltes Krimi-Drama ganz vorzüglich.
Fazit: Serienmorden für den Tierschutz – „Die Spur“ ist eine mutig provokante Variation der verschneiten Thriller, wie wir sie üblicherweise aus Skandinavien kennen. Nur lugt hier irgendwann immer stärker die Sonne hervor – und zwar nicht trotz, sondern wegen der vielen Toten.
Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2017 gesehen, wo „Die Spur“ als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wird.