Der Originaltitel von Justine Triets Tragikomödie ist hierzulande ein Problem: „Victoria“ heißt schließlich auch Sebastian Schippers Berliner One-Shot-Phänomen, das 2015 mit gleich sechs Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet wurde. Und so musste zur Unterscheidung des französischen Namensdoppelgängers ein Untertitel her. Nun heißt der in Cannes 2016 uraufgeführte und hinterher in seiner Heimat zum Publikumshit avancierte zweite Spielfilm von Triet („Der Präsident und meine Kinder“) hierzulande eben „Victoria – Männer & andere Missgeschicke“. Das klingt nicht nur holprig, sondern der generische Zusatz suggeriert auch, dass wir es hier mit einer x-beliebigen romantischen Komödie zu tun haben. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der für fünf Césars nominierte „Victoria“ ist das faszinierende Porträt einer schwer greifbaren und ziemlich exzentrischen Frau. Es ist nicht ganz leicht, mit der von der bravourösen Virginie Efira verkörperten Protagonistin warm zu werden, aber ihre Ecken und Kanten machen die Figur und den Film letztlich nur noch sehenswerter.
Die alleinerziehende Anwältin Victoria (Virginie Efira) genießt ihr Singleleben in vollen Zügen. Sie hat ein leidenschaftliches Sexleben, schleppt jeden Abend einen anderen Kerl mit nach Hause und wickelt mit ihrer charmant-egozentrischen Art nicht nur die Herren der Schöpfung, sondern auch die Richter um den Finger. Doch all das ändert sich, als es auf der Hochzeit einer guten Freundin zu einem Zwischenfall kommt. Victorias guter Freund Vincent (Melvil Poupaud) soll nur wenige Stunden nach einer leidenschaftlichen Gesangseinlage versucht haben, seine Freundin zu ermorden – und das vor den Augen eines ihn ohnehin hassenden Dalmatiners. Trotz der Freundschaft zwischen Vincent und ihr springt Victoria ihm als Anwältin zur Seite und versucht alles, um den charismatischen Macho vor dem Gefängnis zu bewahren. Und dann ist da auch noch Sam (Vincent Lacoste), ein ehemaliger Mandant, der ab sofort auf Victorias Töchter aufpassen soll und ein Auge auf seine hübsche Arbeitgeberin geworfen hat…
Hauptfigur Victoria ist so etwas wie ein wandelnder Widerspruch. Das beginnt schon damit, dass die betonte Realistin ihre Probleme auf der einen Seite mit einem Psychoanalytiker bespricht, sich jedoch schon wenige Stunden später von einer Wahrsagerin die Karten legen lässt. Pedantisch bereitet sie ihre Prozesse und Plädoyers vor, setzt sich mit Feuereifer für ihre Mandanten ein und lässt doch keine Gelegenheit aus, um im nächstbesten Moment mit einem der vorsitzenden Richter in die Kiste zu springen. Insofern ist es eigentlich nur konsequent, dass die von Virginie Efira („Birnenkuchen mit Lavendel“) hinreißend-natürlich verkörperte Victoria schließlich macht, wovon man jedem Anwalt in der echten Welt abraten würde: Sie übernimmt die Verteidigung eines ihr besonders nahestehenden Freundes und lässt ihre inneren Gegensätze damit voll aufeinanderprallen.
Diese Wendung ist ein cleverer Schachzug von Regisseurin und Drehbuchautorin Justine Triet, die gewitzt mit den Erwartungen des Publikums spielt. Inszeniert sie ihre Hauptfigur in der einen Szene noch als nimmersatte Nymphomanin, schmeißt diese ihren Lover im nächsten Moment im hohen Bogen aus dem Bett, als dieser vor dem Beischlaf kein persönliches Wort mit ihr wechseln will. Das ist zwar durchaus amüsant, aber eben nicht als witzige Pointe inszeniert. Der Moment ist vielmehr vor allem ein weiterer Mosaikstein im Porträt einer vielschichtigen Persönlichkeit, insgesamt ist „Victoria“ eher ein Charakterdrama als eine echte Komödie: Es geht um einen Reifeprozess, bei dem sich gegenseitig scheinbar im Weg stehende Eigenschaften schließlich doch zu einer Einheit ergänzen. Die am Anfang so anstrengend daherkommende Victoria wirkt dabei schon ziemlich bald auch ungeheuer anziehend und inspirierend, was sich im Subplot um ihren Ex-Mann David (ganz schön schmierig: Laurent Poitrenaux) besonders schön zeigt.
David verarbeitet die Trennung, indem er Geschichten veröffentlicht, die ganz offensichtlich von der Beziehung mit Victoria inspiriert sind. Obwohl David seine Ex-Frau alles andere als in einem guten Licht erscheinen lässt, wird seine Romanreihe zu einem großen Erfolg (der später sogar in ein Kinoprojekt münden soll). Besser ließe sich die Faszination für die Hauptfigur nicht erklären, zu der auch beiträgt, dass Virginie Efira mit umwerfender Chuzpe agiert: Man kann schlicht und ergreifend gar nicht anders, als sich in Victoria und ihre emotionalen Widersprüche zu verlieben. Bei ihr ist die extreme Sprunghaftigkeit, die in anderen Filmen so oft ein Glaubwürdigkeitsproblem mit sich bringt, ganz einfach Teil ihres hochkomplexen Charakters. Efira spielt die anderen Darsteller konsequent an die Wand – etwas anderes würde auch gar nicht zu Victoria passen -, nur Melvil Poupaud („By the Sea“) liefert sich als unverschämt-charmanter Vielleicht-Mörder ein Duell auf Augenhöhe mit seiner Anwältin. Das Durchhaltevermögen von Vincent Lacostes („Saint Amour – Drei gute Jahrgänge“) ausdauernd für seine anstrengende Arbeitgeberin schwärmendem Sam wiederum ist zuckersüß anzusehen, bis sich später herauskristallisiert, wie tief stille Wasser wirklich sind.
Fazit: Regisseurin Justine Triet zeichnet mit Hilfe ihrer umwerfenden Hauptdarstellerin Virginie Efira das tiefgründige Charakterporträt einer extrem widersprüchlichen, jedoch nicht minder aufregenden Frau zwischen Komik und Tragik.