Obwohl er sich mit einer Seite des Dritten Reichs auseinandersetzt, die an Unmenschlichkeit gar nicht mehr zu übertreffen ist, gelingt Kai Wessel („Hilde“) mit seinem Drama „Nebel im August“ ein unheimlich menschlicher Film – was vor allem daran liegt, dass er seinem jungen Protagonisten zugesteht, noch so viel mehr zu sein als nur ein Opfer, nämlich ein Teenager mit Ecken und Kanten und Hoffnungen. Basierend auf dem gleichnamigen Tatsachenroman von Robert Domes handelt „Nebel im August“ von der im Dritten Reich betriebenen Euthanasie, die vorgeblich dabei helfen sollte, den Kranken unnötiges Leid zu ersparen, aber in Wahrheit dazu diente, „lebensunwertes Leben“ zu vernichten und so zur Nationalsozialistischen Rassenhygiene beizutragen.
Anfang der 1940er Jahre wird der 13-jährige Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) in eine Nervenheilanstalt in Süddeutschland eingewiesen. Die Diagnose: „nicht erziehbar“. Der selbstbewusste Ernst passt sich den strengen Strukturen der Klinik schnell an, geht Freundschaften ein und knüpft zarte Bande mit der an Epilepsie leidenden Nandl (Jule Herrmann). Doch hinter den dicken Mauern der Anstalt geht Unvorstellbares vor sich. Der Klinikleiter Dr. Veithausen (Sebastian Koch) beaufsichtigt die Aktion „T4“. Die ihm unterliegenden Patienten werden systematisch getötet. Ein Vorgang, der im Dritten Reich dazu beitragen soll, die deutsche Rasse von Erbkrankheiten zu befreien. Als Ernst dahinterkommt, dass immer mehr Freunde von ihm vergiftet werden, wollen er und Nandl fliehen. Doch Dr. Veithausen kann nicht riskieren, dass der pfiffige Junge sein Geheimnis an die Öffentlichkeit bringt…
Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt („Das Programm“) geht ähnlich vor wie Anfang des Jahres Fred Breinersdörfer in seinem Skript zu „Das Tagebuch der Anne Frank“: Wie Anne Frank in der Verfilmung von Hans Steinbichler ist nun auch der von Newcomer Ivo Pietzcker („Jack“) mit einer beachtlichen Reife verkörperte Ernst Lossa kein duckmäuserisches Opfer, sondern ein rebellischer Teenager, der im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, gegen das System aufzubegehren. Lossa hat Ecken und Kanten - und fordert mit seiner unbequemen Attitüde nicht nur seine Mitpatienten, sondern auch die Kinozuschauer heraus. Aber selbst wenn Lossa die erste Auseinandersetzung mit dem Anführer der Insassen prompt für sich entscheidet, wissen wir natürlich alle, dass ein 13-jähriger Junge allein nichts gegen diese ausgeklügelte Tötungsmaschinerie ausrichten kann. So gelingt Kai Wessel ein beachtlicher Balanceakt zwischen anklagendem Zeitdokument und zartem Coming-of-Age-Film, getragen von herausragenden Darstellern.
Neben Ivo Pietzcker begeistert vor allem Sebastian Koch („Bridge Of Spies – Der Unterhändler“), wenn auch auf gespenstische Weise: In seiner Performance vereint er gewissenhaften Gehorsam mit scheußlichen Wertevorstellungen - und vermischt sie zu einer durch und durch angsteinflößenden Erscheinung. Seine Figur des Klinikleiters geht buchstäblich über Leichen. Eine Szene, in der er noch Sekunden vor einer Mordanweisung mit dem totgeweihten Kind herumalbert, wirkt zwar etwas kalkuliert schockierend, unterstreicht aber die bittere Absurdität einer Einrichtung, in der den Menschen eigentlich geholfen werden soll, die zugleich aber auch als Todesmaschinerie eines perversen Systems fungiert. Daneben überzeugt Henriette Confurius („Das kalte Herz“) als vollkommen frei von jedweder Menschlichkeit agierende Krankenschwester Edith – ihre einzige Aufgabe ist es, die Kinder mit „Himbeersaft“ umzubringen. Von Kameramann Hagen Bogdanski in Bilder getaucht, die auch Steven-Spielberg-Stammkameramann Janusz Kaminski („Schindlers Liste“) nicht eindringlicher hätte einfangen können, enzwickelt sich „Nebel im August“ zu einer melancholischen Suche nach dem „Warum?“. Wobei uns Wessel mit dem mutigen Finale nachhaltig zu verstehen gibt, dass es wohl auf diese Frage niemals eine Antwort geben wird.
Fazit: „Nebel im August“ ist ein vielschichtiges, herbes Drama, das die niederschmetternde Thematik Euthanasie so ungeschönt an den Zuschauer heranträgt, wie es sein muss. Bis zum bitteren Ende.