Die Suche nach verschollenen oder bisher unbekannten Verwandten gehört schon seit Sophokles und seinem „König Ödipus“ aus dem Jahr 429 vor Christus zu den großen Themen aller Geschichtenerzähler und wird heutzutage insbesondere von den Autoren von Telenovelas und anderen Seifenopern gern bis ins Extrem ausgereizt. Auch reale Familienschicksale erreichen effektvoll aufbereitet in Fernsehformaten wie „Bitte melde dich!“ ein gern mitfieberndes Publikum. Einen im Vergleich sehr zurückhaltenden, aber deshalb nicht weniger wirkungsvollen Erzählton schlägt der französische Regisseur Philippe Lioret („Keine Sorge, mir geht's gut“, „Welcome“) nun in seinem transatlantischen Familiendrama „Die kanadische Reise“ an und führt den aus Paris stammenden Protagonisten bis nach Kanada in ein Geflecht aus Geheimnissen, Unstimmigkeiten und mysteriösen Fragen.
Mathieu (Pierre Deladonchamps) wird hellhörig, als man ihm von einem Anruf aus Kanada erzählt, bei dem sich jemand nach seiner Adresse erkundigt hat, um ihm ein Paket zu schicken: Als er 14 war, hatte ihm seine Mutter davon erzählt, dass er die Folge eines One-Night-Stands war, doch nun erfährt er, dass dieser biologische Vater namens Jean verstorben sei, und dessen guter Freund Pierre (Gabriel Arcand) einen letzten Wunsch des Dahingeschiedenen erfüllen soll. Schließlich kommt auch noch heraus, dass Mathieu in Kanada ungeahnte Halbbrüder hat. Diese will er am liebsten sofort kennenlernen, aber Pierre will ihn davon abhalten, weil er befürchtet, dass Jeans Witwe so von der Entgleisung ihres Gatten erfahren wird, was eindeutig nicht in dessen Interesse gewesen wäre. Mathieu, der selbst einen Sohn aus einer früheren Beziehung hat, mit dem er eigentlich das Wochenende verbringen wollte, fliegt trotzdem kurzerhand nach Kanada, trifft am Flughafen Pierre, der ihm das Paket des toten Vaters persönlich überreicht und ihm weiterhin ins Gewissen redet, nicht seinen Halbbrüdern nachzustellen, weil das der angeschlagenen Familie nur zusätzliches Leid bringen würde. Der Gast setzt sich über den Wunsch hinweg und unternimmt eigene Recherchen, sodass ihn Pierre zur Ablenkung seiner eigenen Familie vorstellt. Als Bekannter Pierres „getarnt“ kommt Mathieu schließlich auch seinen nichtsahnenden Halbbrüdern Ben (Pierre-Yves Cardinal) und Sam (Patrick Hivon) näher…
Die Synopsis fällt hier recht ausführlich aus, um zumindest eine Ahnung von der Komplexität und vom Figurenreichtum der Handlung zu vermitteln, in der beispielsweise auch noch Pierres Tochter, die alleinerziehende Mutter Bettina (Catherine De Léan, „Schlussmacher“), eine entscheidende Rolle spielt. „Die kanadische Reise“ ist vage inspiriert von einem Roman des Franzosen Jean-Paul Dubois („Ein französisches Leben“, „Kennedy und ich“), den der für seine leisen und unaufdringlichen Dramen bekannte Regisseur Philippe Lioret vor Jahren gelesen hat. Gemeinsam mit Mathieu, der als Außenstehender in eine ihm fremde Welt kommt, lässt er den Zuschauer immer tiefer in diese komplizierte Geschichte eintauchen.
Nach und nach gibt Lioret neue Erkenntnisse preis und immer wieder tun sich dabei neue Querverbindungen auf, wodurch das Geschehen ständig in ein anderes Licht getaucht wird – selbst ein Gemälde hat hier eine eigene faszinierende Geschichte. Dieses virtuose Jonglieren mit Einzelheiten funktioniert trotz der keineswegs geradlinigen Handlung erstaunlich gut, das zeigt sich schon gleich am Anfang des Films, der exemplarisch ist für Liorets Erzählweise: Man sieht einen betagten Herrn, der sich gerade rasiert. Dann klingelt anderswo in der Wohnung ein Telefon, das eine junge Frau beantwortet, bei der es sich offenbar um eine Pflegerin oder Haushaltshilfe handelt. In wenigen Einstellungen ist alles für die Geschichte der beiden Figuren vorbereitet, es fühlt sich an, als wäre man schon mitten drin, aber nach den ersten fünf Minuten spielen sie keine Rolle mehr, und dass der Alte einst der „Ziehvater“ Mathieus war, bekommt man allenfalls am Rande mit. Aber all diese Details und Kurzauftritte fügen sich wie Puzzleteile in das sich langsam zusammensetzende Gesamtbild und geben dem Film eine bemerkenswerte erzählerische Dichte.
Dass hier selbst aus groben Skizzen und wenigen Andeutungen immer mindestens die Keimzellen faszinierender Geschichten hervorgehen (und nicht etwa nur lose Fäden), liegt zu einem wesentlichen Teil auch an den tollen Schauspielern. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen dem Franzosen Pierre Deladonchamps (Gewinner des César als Bester Jungschauspieler für „Der Fremde am See“) als Mathieu und den Franko-Kanadiern Pierre-Yves Cardinal („Sag nicht, wer du bist!“) und Patrick Hivon („Ville-Marie“) als seinen fremden Brüdern ist reich an Zwischentönen. Die Darsteller sind insbesondere in Kanada durch die Bank hervorragend, immer wieder sorgen kleine Irritationen und überraschende Gemeinsamkeiten bei vielen ganz grundlegenden Unterschieden für Belebung, gerade auch in den dialogarmen Szenen, die mehrfach besonders herausstechen.
Fazit: Ein unaufgeregter, hervorragend durchdachter Film über eine faszinierende Familienkonstellation, der von exzellenten Darstellern getragen wird.