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    Der Distelfink
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Der Distelfink

    Eine abgestürzte Oscar-Hoffnung!

    Von Carsten Baumgardt

    Wenn man nach 150 Minuten Kino denkt, ein Film sei gleichzeitig zu lang und zu kurz, ist das sicherlich kein befriedigendes Gefühl. Dabei galt John Crowleys Verfilmung von Donna Tartts gleichnamigem, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetem Roman „Der Distelfink“ als ganz große Hoffnung für die diesjährige Oscar-Saison. Aber das hatte sich schon Stunden nach der Weltpremiere wieder erledigt, als der Prestige-Film mit unerwartet harschen Kritiken abgewatscht wurde – und am Wochenende drauf legte der gar nicht mal so günstige „Der Distelfink“ (Budget: 45 Millionen Dollar) dann auch noch einen der fünf schlechtesten US-Kinostarts (für einen Film, der in mehr als 2.500 Sälen angelaufen ist) überhaupt hin. Nun waren die Verrisse zum Teil schon sehr erbarmungslos – und trotzdem kann man die Kritiker und das (ausbleibende) Publikum schon verstehen.

    Regisseur Crowley schafft es nämlich trotz famos-edler Bilder von Kamera-Genie Roger Deakins („Skyfall“) nicht, seiner ambitionierten Geschichte genug Leben einzuhauen, um den Zuschauer so emotional zu fesseln, wie es ihm zuletzt bei seinem berührenden Auswanderer-Drama „Brooklyn“ noch grandios gelungen ist. Es mangelt der episodenhaften Erzählung an einem roten Faden, die Hauptfigur des traumatisierten Theo, der bei einem Terroranschlag seine Mutter verlor, findet weder Bindung zu den anderen Charakteren noch zum Zuschauer. So bleibt am Ende der zwiespältige Eindruck, dass „Der Distelfink“ über weite Strecken langatmig ist, zugleich wünscht man sich die meisten Episoden aber eher länger als kürzer, weil ihnen einfach das nötige erzählerische Fleisch am Knochen fehlt, um mit dem Protagonisten mitzufühlen und an seinem bewegten Schicksal teilhaben zu können.

    Der verzweifelte New Yorker Antiquitätenhändler Theo Decker (Ansel Elgort) hockt mit einem blutverschmierten Hemd in einem Hotel in Amsterdam. Der Ausgangspunkt, der ihn über viele Umwege in diese verzweifelte Lage gebracht hat, liegt allerdings schon 14 Jahre zurück: Mit 13 Jahren werden Theo (jung: Oakes Fegley) und seine Mutter (Hailey Wist) bei einem Besuch des Metropolitan Museums Opfer eines terroristischen Bombenanschlags. Weil seine Mutter stirbt und sein chaotischer Versager-Vater nicht auffindbar ist, kommt Theo zunächst bei der Familie seines Schulkameraden unter. Die reichen Barbours nehmen den verstörten Jungen unter ihre Fittiche – besonders Mrs. Barbour (Nicole Kidman) sorgt und kümmert sich. Seine Freizeit verbringt Theo vor allem bei dem Restaurateur Hobie (Jeffrey Wright), der den Teenager auch mit seiner Leidenschaft für antike Möbel infiziert. Aber dann taucht sein Vater Larry (Luke Wilson) plötzlich doch wieder auf und Theo muss bei seinem Erzeuger und dessen Freundin Xandra (Sarah Paulson) in einer nahezu menschenleeren Wüstensiedlung in der Nähe von Las Vegas einziehen. Dort macht der isolierte Junge gemeinsam mit dem gleichaltrigen ukrainischen Kosmopoliten Boris (Finn Wolfhard) schon bald seine ersten Drogenerfahrungen…

    Ein freudiges Wiedersehen: Mrs. Barbour (Nicole Kidman) und Theo (Ansel Elgort).

    Eine Verfilmung von Donna Tartts „Der Distelfink“ ist von Natur aus gewiss kein einfaches Unterfangen. Schließlich glänzt das Roman-Epos irgendwo zwischen Charles Dickens und „Der Fänger im Roggen“ mit seitenlangen Beschreibungen des Innenlebens der Hauptfigur Theodore „Theo“ Decker, der eine enorme Traurigkeit in sich trägt, weil er sich für den Tod seiner über alles geliebten Mutter verantwortlich fühlt. Diesen inneren Prozess, den man auf geduldigen Papierseiten mühelos sichtbar machen kann, auf die große Leinwand zu übertragen, ohne zu langweilen, ist da natürlich sehr viel schwieriger. So erweist sich Tartts Roman am Ende einfach als zu komplex für Crowley, der zwar die meisten der sehr zahlreichen Figuren auch im Film unterbringt, aber die Verbindungen zwischen ihnen und Theo kaum einmal mit den nötigen Emotionen unterfüttert. Es sind alles Figuren, die eine Rolle in seinem Leben spielen – aber die tiefen Verbindungen bleiben meist nur behauptet.

    Beispielhaft für diese Diskrepanz zwischen Roman und Verfilmung ist die Verhörszene relativ zu Beginn, wenn die Polizei den verängstigten jungen Theo, der nach dem Terroranschlag das titelgebende Gemälde hat mitgehen lassen, in die Mangel nimmt. Im Buch ist detailliert beschrieben, wie der Behördenakt auf den Jungen mit dem schlechten Gewissen wie pure Folter wirkt. Die Ermittler schüchtern den Jungen fürchterlich ein, bis er kurz davor ist, komplett zusammenzubrechen und doch noch mit der Wahrheit herauszurücken. Von dieser unglaublichen Intensität kommt in der äquivalenten Szene auf der Leinwand jedoch kaum etwas an. Am ehesten gelingt dieses Verbinden der Figuren noch bei der von Nicole Kidman („Big Little Lies“) zurückhaltend-stilvoll und doch eindringlich gespielten Mrs. Barbour. Als wir sie in Theos Erwachsenenalter (mit Kidman in „Destroyer“-Maske) wiedersehen, beginnt das Herz von „Der Distelfink“ zumindest für eine gewisse Zeit an zu schlagen.

    Ansel Elgort kann doch nicht alles

    Auch der eigentlich talentierte Hauptdarsteller Ansel Elgort („Baby Driver“) kann nicht sichtbar machen, wer dieser Theo Decker als Erwachsener tatsächlich ist. Er wirkt in der Rolle ähnlich verloren wie seine Figur in der Welt. Was Theo außer seiner ständig im Hintergrund schwelenden Drogensucht antreibt, bleibt ungewiss. Seine Freundschaft mit Hobie sorgt zumindest für einige bemerkenswerte Momente, wenn Theos gut gemeinte Verschlagenheit seinen rechtschaffenden Mentor bloßstellt. Und auch der charismatische „Stranger Things“-Jungstar Finn Wolfhard („ES 2“) belebt als verkorkster Expatriat-Sohn Boris in der Kindheitsepisode die spröde Szenerie. Schade nur: In der Erwachsenenversion ist Boris (Aneurin Barnard) nur noch ein schmieriger Drogendealer, der die Geschichte forciert – dabei ist eigentlich nicht der Krimi-Plot, sondern ihre Beziehung zueinander das eigentlich wichtige Element.

    Boris (Finn Wolfhard) führt Theo (Oakes Fegley) an die Drogen heran.

    Negativ wirkt sich auch Crowleys Entscheidung aus, die Erzählstruktur des Romans zu verändern. So enthält er dem Publikum Informationen vor bzw. liefert sie erst später nach, um seinem Film zusätzliche Spannung zu verleihen (im Buch ist hingegen jederzeit klar, was eigentlich Sache ist). Aber das Experiment geht nach hinten los, denn ohne diese Informationen funktioniert das Zusammenspiel vieler Figuren für den Zuschauer einfach nicht: Die tiefe Freundschaft zwischen Theo und Hobie bleibt auf der Leinwand etwa pure Behauptung. Das Band zwischen den beiden entstand im Buch noch dadurch, dass Theo Hobies im Sterben liegenden Freund und Geschäftspartner Welty Blackwell (Robert Joy) in den letzten Minuten seines Lebens nach dem Bombenanschlag einfühlsam begleitet hat.

    Das führte die beiden einsamen Seelen zusammen – physisch und emotional. Im Film wird die Szene mit Welty allerdings erst sehr viel später quasi als eine Art „Twist“ präsentiert. Aber das ist dann nur noch eine nachgereichte Erklärung, wo sie eigentlich als emotionales Fundament nötig gewesen wäre. Auch die Zeit bei der Familie Barbour, die im Buch mehr als ein Viertel der Seiten einnimmt und die Grundlage für die komplette Charakterzeichnung bietet (inklusive der Hobie-Story), ist in der Verfilmung so stark beschnitten, dass nur noch ein Torso übrig bleibt. Wenn Crowley so viel kürzt, dass eigentlich zentrale Figuren (wie der gegen seinen Vater rebellierende älteste Barbour-Bruder, der nur am Abendbrottisch einmal ganz kurz auftaucht) nur noch ein oder zwei Szenen haben, dann wirken sie natürlich wie leere Klischees. Das lässt sich in dieser Form gar nicht vermeiden. Da hätte man noch sehr viel mehr kürzen und sich auf bestimmte Aspekte konzentrieren oder den Stoff direkt als Mini-Serie umsetzen müssen. So aber ist der Film nichts Halbes und nichts Ganzes.

    Fazit: Die Atmosphäre in ist insgesamt betont kühl. Aber das ist gar nicht mal der Hauptgrund, warum Regisseur John Crowley mit seiner Verfilmung von Donna Tartts preisgekröntem Roman auf hohem visuellen Niveau scheitert. Stattdessen mangelt es einfach an den nötigen Emotionen, weil „Der Distelfink“ trotz seiner stolzen Laufzeit über die meisten Episoden einfach nur hinwegfegt, ohne dass sich dabei der nötige Funken beim Zuschauer nachhaltig entzünden könnte.

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