Der Mythos, dass in einer Dokumentation zwangsläufig die Wahrheit gezeigt wird, ist schon lange entlarvt. Immer offensichtlicher sind auch dokumentarische Filme in der heutigen Zeit inszeniert, werden Spielszenen und andere Formen in eine Dramaturgie eingeflochten, so dass eine immer größere Annäherung zum fiktionalen Kino besteht. Angesichts dieser ohnehin schon erfolgenden Verwässerung bekennen sich immer mehr Filmemacher dazu, in ihren Filmen ganz bewusst Dokumentarisches und Fiktives zu vermischen, Biographisches mit Erfundenem zu verschmelzen, um so auch auf die Subjektivität der Erinnerung zu verweisen. So ein Film ist Davi Prettos „Castanha“, der im Forum der Berlinale 2014 Premiere feierte und in dem Travestiekünstler João Pedro Castanha sich selbst darstellt, vielleicht aber auch nur eine Version seiner selbst. Das Ergebnis ist enigmatisch und tief melancholisch.
In der südbrasilianischen Hafenstadt Porto Alegre lebt der 52jährige João Pedro Castanha zusammen mit seiner Mutter in einem kleinen Appartement. Castanha ist HIV-positiv, man sieht es ihm an, doch mit unveränderter Kraft geht er seinem Leben nach, bewirbt sich bei Castings um Schauspieljobs und tritt nachts in den Travestieclubs der Stadt auf, um etwas dazuzuverdienen. Mit seinen Freunden schwelgt er immer wieder in Erinnerungen an vergangene, vermeintlich bessere Zeiten, in denen sie jung waren, in denen AIDS aber auch viel schneller tötete, als es heute der Fall ist. In einem langen, langsamen Prozess des Sterbens scheint sich Castanha zu befinden, in einem langen Siechtum, dass die Melancholie seines Lebens, geprägt durch das Meer und die Atmosphäre einer Hafenstadt noch verstärkt.
Meistens befindet sich die Kamera in Davi Prettos erstem Langfilm in engen Räumen, in den Umkleidekabinen der Clubs, vor allem aber in dem meist abgedunkelten Appartement, in dem Castanha mit seiner Mutter lebt. Klassisch dokumentarisch wirken diese Szenen des Alltagsleben, Unterhaltungen, auch mal Streits werden gezeigt. So entsteht das Porträt eines Mannes, der für seine Mutter lebt. Doch wie es etwa Werner Herzog („Mein liebster Feind“, „Rad der Zeit“) immer wieder macht, wenn er die Objekte seiner Dokumentation in fiktive Szenen steckt, um einer, wie er es nennt „Ekstatischen Wahrheit“ auf die Spur zu kommen, so erfindet auch Pretto Szenen dazu.
Da gibt es etwa den Enkel Marcello, der drogensüchtig ist und den Bewohnern des Hauses zunehmend auf die Nerven fällt. Immer gespannter wird die Situation, bis Castanha einen Freund bittet, Marcello doch eine Abreibung zu verpassen. Doch ist diese Szene echt oder inszeniert, ist Castanha hier er selbst oder spielt er eine Rolle? Solche Fragen, die bei jedem Menschen von Relevanz sind, schließlich spielt man oft bestimmte Rollen, je nachdem in welcher sozialen Situation man sich bewegt, spielen beim Schauspieler, haben bei Performer Castanha eine besonders große Bedeutung. Spielt er nur, wenn er im Kostüm eines Transvestiten auf der Bühne steht, oder ist auch das Leben bis zu einem gewissen Punkt ein Spiel, eine Bühne? Antworten auf diese Fragen gibt Pretto natürlich nicht, er lässt sie im Raum stehen und deutet mit seinem distanziert beobachtenden Blick die Vielfalt von Castanhas Leben an, aber auch die Tragik eines Mannes, der auch mit über 50 noch nach einer, nach seiner Rolle sucht.
Fazit: Mit „Castanha“ inszeniert Davi Pretto eine spannende Mischung aus Dokumentation und Fiktion, in der er auf vielfältige Weise das Leben seiner Hauptfigur João Pedro Castanha beschreibt und reflektiert. Bisweilen etwas enigmatisch ist dieses Experiment, aber immer sehenswert.