Christian Petzold erzählt moderne Geistergeschichten. Seine Hauptfiguren sind meist nicht nur aus den üblichen sozialen Netzen gefallene Außenseiter, sondern regelrechte Fremdkörper, Sand im Getriebe der Normalität. Von den untergetauchten Terroristen in seinem bekanntesten Film „Die innere Sicherheit“ über die grundlos Liebenden und erfolglos Suchenden im passend betitelten „Gespenster“ bis hin zu den von Nina Hoss verkörperten irrlichternden Titelheldinnen aus „Yella“ und „Barbara“: Wie Phantome entgleiten diese Flüchtigen dem einfachen Verständnis und bevölkern das Niemandsland zwischen Lüge und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod. Denn auch Petzolds Bilder geben keinen Halt, vielmehr ist ihnen die Skepsis gegenüber Klischees und Denkgeboten, einseitigen Erklärungen und manipulativen Lenkungen programmatisch eingeschrieben. Das Erzählen selbst steht in Petzolds Kino förmlich auf dem Prüfstand, das gilt insbesondere für sein neuestes Werk. Der Regisseur blickt durch das Prisma von Film noir und „Vertigo“ auf die unmittelbare Nachkriegszeit in Deutschland und macht aus „Phoenix“ einen „Trümmer-Film“ im doppelten Sinne: Er erzählt von der unauflösbaren Spannung zwischen Vergessen und Erinnerung, Auslöschung und Rekonstruktion – die Stunde Null als filmische Geisterstunde.
Juni 1945. Nelly (Nina Hoss) hat schwere Gesichtsverletzungen erlitten und Auschwitz nur mit knapper Not überlebt. Lene (Nina Kunzendorf), die bei der Jewish Agency arbeitet, bringt ihre alte Freundin zurück nach Berlin. Dort wird das entstellte Gesicht der Rückkehrerin operativ rekonstruiert. Bald möchte Lene mit ihr nach Palästina übersiedeln. Doch Nelly, deren gesamte Familie im Holocaust getötet wurde, will erst nach ihrem nicht-jüdischen Ehemann Johnny (Ronald Zehrfeld) suchen und lässt sich auch von Lene nicht davon abhalten: Der Verdacht steht im Raum, dass Johnny Nelly an die Nazis verraten hat. Als die Rückkehrerin den Gatten tatsächlich im Nachtclub „Phoenix“ entdeckt, erkennt er sie nicht wieder – so sicher ist er, dass sie tot sein muss. Aber eine frappierende Ähnlichkeit zu Nelly fällt ihm auf und das bringt ihn auf eine Idee. Die vermeintliche Unbekannte soll sich als Nelly ausgeben und ihm so Zugriff auf das Erbe der Familie sichern. Die Frau lässt sich darauf ein, schlüpft in die Rolle der Totgeglaubten und wird damit zu ihrer eigenen Doppelgängerin. Sie will wissen, was passiert ist und was Johnny wirklich fühlt…
Schon in der Eröffnungsszene umreißt Christian Petzold ganz deutlich zentrale Motive seines Films: Da wird ein Auto an einer Straßensperre angehalten und ein amerikanischer GI will die Insassen kontrollieren, aber das Gesicht der Beifahrerin ist vollständig in Bandagen gehüllt, was die Identifikation unmöglich macht. Schließlich zeigt ihm die unter großen Schmerzen leidende Frau was unter dem Verband ist (dem Zuschauer bleibt der Anblick erspart), worauf der Soldat sich schockiert entschuldigt und das Fahrzeug durchwinkt. Nelly hat zu Beginn buchstäblich kein Gesicht, die Kamera bleibt auf Distanz zu ihr. Anders als bei Humphrey Bogart dessen Kopf im Film-noir-Klassiker „Die schwarze Natter“ ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit einbandagiert ist, sehen wir die Dinge auch lange Zeit nicht aus ihrer Sicht. Wenn sie dann sagt: „Mich gibt’s gar nicht mehr“, dann bringt das die Situation auf den Punkt: Die Person Nelly und ihre Vergangenheit sind im Konzentrationslager zerstört worden. Für diesen Abgrund gibt es keine angemessenen Bilder und als sie mit wiederhergestelltem Gesicht Johnny im Nachtclub „Phoenix“ entgegentritt, wird sie inszeniert wie eine Geistererscheinung „aus dem Reich der Toten“. So lautet auch der deutsche Untertitel von Hitchcocks Meisterwerk „Vertigo“, das nicht nur für diese in unwirkliches rotes Licht getauchte Szene Pate stand.
Vor der Gesichtsoperation bietet der Arzt (Michael Maertens) Nelly ein Aussehen nach Wahl an und will aus ihr einen „neuen Menschen“ machen, aber sie mag nur sie selbst sein. Der Weg dahin ist lang: Mit dem Blick in einen zerbrochenen Spiegel mitten in einem Trümmerhaufen im zerstörten Berlin beginnt ihre (Rück-)Verwandlung. Sie wird nun allmählich wieder zum Subjekt und um zu sich selbst zurückzufinden, unterwirft sie sich auch den rücksichtslosen Manipulationen Johnnys. Erst nachdem sie auf sein Geheiß in die schicken Schuhe und Kleider der alten Nelly schlüpft, bekommt sie das Heft des Handelns wieder fester in die Hand, was sich auch in Nina Hoss‘ („Die weiße Massai“, „Wir sind die Nacht“) mikroskopisch genauer Darstellung widerspiegelt. Aus dem Phantom, das anfangs mit schlaffer Körperhaltung über Krankenhausflure und zerstörte Straßen huschte, wird im Verlauf des Films wieder eine sinnliche Frau, die sich den Blicken der Anderen nicht mehr entziehen will. Wenn die frühere Sängerin Nelly am Ende Kurt Weills Song „Speak Low“ anstimmt, den sie in einer früheren Szene mit Nina Kunzendorfs Lene beim Kohlrouladenessen noch auf dem Grammophon gehört hat, dann vollendet sie ihren Weg und hat die Kontrolle über das eigene Leben zurückgewonnen. Doch es gibt einen Beigeschmack, denn die Nelly, die in Auschwitz war, die will keiner sehen (wie es Johnny einmal offen ausspricht, der die Vergangenheit und seine Schuldgefühle hinter sich lassen will) und sie kann ihre Geschichte nur zwischen den Zeilen ihres herzzerreißenden Liedes erzählen.
Die Erfahrung des Holocaust liegt wie ein Geisternebel über „Phoenix“. Petzold vermeidet mit der Scheu eines Vampirs vor dem Sonnenlicht alles, was an Vergangenheitsbewältigung, Guido-Knopp-Geschichtsvereinnahmungen oder an den Rekonstruktionsdrang in Filmen wie „Der Untergang“ oder „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ denken lässt. Er entscheidet sich aber auch gegen den (Neo-)Realismus eigener früherer Filme und setzt hier auf die Mittel des Film noir: Harte Kontraste von Licht und Schatten, die Isolierung der Figuren in genau kadrierten Einstellungen, die nächtlichen Straßen, Wohnungen und Nachtclubs und die Geschichte um verlorene Identitäten, Täuschung und Verrat – all das ist auch in den Klassikern der 40er Jahre allgegenwärtig. Petzold nähert sich dem Trauma also indirekt und betont die Künstlichkeit seiner Mittel noch. Jeder Musikeinsatz, jedes Straßengeräusch, jeder Lichtkegel ist hier mehr ein Verweis auf eine Art zu erzählen als Erzählung selbst. Diese Differenz macht „Phoenix“ interessant, steht der emotionalen Wirksamkeit der im Grunde extrem (melo-)dramatischen Geschichte allerdings im Wege. Wie in „Vertigo“ will auch in „Phoenix“ ein Mann eine Frau in eine vermeintlich andere aus seiner Vergangenheit verwandeln, doch während diese Transformation bei Hitchcock von Begierde und Obsession angetrieben wird, ist bei Petzold nur Kalkül zu sehen. Einzig in den Augen von Nina Kunzendorf („Meine Schwestern“, „Tatort“) und Ronald Zehrfeld („Die geliebten Schwestern“) sowie in der Musik von Kurt Weill flackern in diesem Gedanken-Kino gelegentlich Gefühle auf.
Fazit: „Phoenix“ ist reflexiv-unterkühltes Konzept-Kino zum Mitdenken im Gewand eines Film noir.