Mit seinem Drama „Wholetrain“ über zwei konkurrierende Graffiti-Gangs fing Regisseur und Drehbuchautor Florian Gaag 2006 das Lebensgefühl sowie die Sorgen einer Jugend-Subkultur ein. Zudem erkannte Gaag die Hauptdarstellerqualitäten von Elyas M’Barek – lange bevor dieser mit „Fack ju Göhte“ zum Kino-Superstar aufstieg. Zwar hat den Film bei seiner Kinoauswertung damals fast niemand gesehen, aber dafür erhielt Gaags Debütfilm unter anderem den Adolf-Grimme-Preis. Zehn Jahre sind seither vergangen – und erst jetzt liefert der Regisseur seine zweite Kinoarbeit nach. Erneut spielen Graffitis eine Rolle, erneut blickt er auf die Ängste und die Hoffnungen der Jugend. Im Zentrum seines irgendwo zwischen Jugenddrama und Psycho-Thriller angesiedelten Zweitwerks „LenaLove“ steht allerdings ein Thema, das in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat: Cybermobbing.
Spätestens seit ihre ehemals beste Freundin Nicole (Kyra Sophia Kahre, „Fack ju Göhte“) der ebenso schüchternen wie sensiblen Hobbykünstlerin ohne erkennbare Gründe die kalte Schulter zeigt, fühlt sich die 16-jährige Lena (Emilia Schüle, „Boy 7“) in ihrer Schule zunehmend ausgegrenzt. In der Hoffnung, die Freundschaft wieder flicken zu können, erledigt Lena zwar regelmäßig Nicoles Hausaufgaben, aber die zerreißt sich viel lieber mit Stella (Sina Tkotsch, „Dschungelkind“) das Maul über ihre frühere Freundin. Als der ebenfalls zurückhaltende Tim (Jannik Schümann, „Die Mitte der Welt“) neu auf die Schule kommt, glaubt Lena, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Die beiden kommen sich näher, doch auch Nicole findet Interesse an dem ebenso gutaussehenden wie geheimnisvollen Jungen. Gekränkt flüchtet sich Lena in die Weiten des Internets, wo sie mit „Noah“ jemanden findet, der gewillt ist, sich mit ihren Sorgen auseinanderzusetzen. Lena ahnt nicht, dass „Noah“ nur ein Fake-Account ist, hinter dem sich jemand verbirgt, der ihr schaden möchte …
Eltern und Lehrer spielen in „LenaLove“ zwar nur am Rande eine Rolle, aber unwichtig sind sie trotzdem nicht, denn unwissentlich machen sie alles nur noch schlimmer: Weil die Erwachsenen trotz Ehebruch, Überforderung und Frustration immer den Anschein der Perfektion erwarten, erhöhen sie nur den Druck bei den Jugendlichen, die so glauben, ebenfalls jede Situation perfekt meistern zu müssen. Etwaige emotionale Rückschläge werden dann einfach in sich hineingefressen, statt sich jemandem anzuvertrauen. Dafür findet Regisseur Gaag ein sehr passendes Symbol, indem er sein Cybermobbing-Thriller-Drama um einen Subplot um eine Formationstanzgruppe erweitert, in der neben diversen erwachsenen Nebenfiguren auch Lena mitwirkt. Nicht nur tritt ein Missgeschick Lenas schließlich die Onlineattacken auf sie los, die spießige und vermeintlich wohlsituierte Welt des Wettbewerbstanzes ist außerdem ein Spiegelbild dessen, wie soziale Netzwerke funktionieren: Alles dreht sich um eine perfekte Oberfläche und es existiert ein hohes Konkurrenzdenken – ob dabei nun um eine höhere Punktzahl oder mehr Likes und Follower gekämpft wird, ist vollkommen nebensächlich.
Das Internet wird in „LenaLove“ zwar zu einer psychologischen Waffe, trotzdem nähert sich Gaag den neuen Medien bei weitem nicht so unreflektiert wie etwa Jason Reitman. Denn wo dieser in seinem Episodenfilm „#Zeitgeist“ geradezu strafend auf die digitale Revolution herabblickt und sie für alle möglichen sozialen Schieflagen verantwortlich macht, verzichtet Gaag auf einen mahnenden Zeigefinger. Stattdessen taucht er ganz tief in die zerrüttende Gefühlswelt seiner Titelfigur ab. Je weniger Rückhalt Lena von Bekannten und Anvertrauten in der realen Welt bekommt, desto anfälliger ist sie auch für die Online-Verletzungen, bis sie schließlich von schrecklichen Albträumen und aufreibenden Angstphantasien geplagt wird. Unterstrichen wird diese Spirale durch einen zunehmend immer frenetischeren Schnitt und die Kameraarbeit von Christian Rein („How To Be Single“), der auf immer rauere und kontrastreichere Bilder setzt, die dem Zuschauer ähnlich zusetzen wie die kraftvoll-disharmonische Elektroklangkulisse.
Immer wieder tauchen diabolische Graffitis auf, die Lena zu Beginn des Films noch beeindruckend findet und die sie sogar zu eigenen Zeichnungen inspirieren, sie später aber zunehmend auch in ihren Wahnvorstellungen heimsuchen. Ein von Gaag psychologisch effektiv eingesetztes Motiv – nur wenn die Zeichnungen per Computeranimationen zwischenzeitlich zum Leben erweckt werden, ist die Umsetzung nicht ganz rund. Aber die Furcht bleibt trotzdem spürbar: Egal ob sie auf ihrem Schutzpanzer auszubrechen versucht oder sich noch weiter in diesen zurückzieht, Emilia Schüle verkörpert ihren Part extrem glaubwürdig. Die Rollen von Sophia Kahre und Sina Tkotsch werden hingegen weitestgehend auf dauerzickige Sprüche und überhebliche Blicke reduziert. Dass Lenas Peiniger derart eindimensional gezeichnet werden, ist echt schade: Die Konstellationen des Cybermobbings werden in „LenaLove“ angemessen vielschichtig abgebildet, die Täter nicht. Trotzdem ist der Thriller letztendlich eine moderne Antwort auf das ein wenig in Vergessenheit geratene Genre des Teenie-Slashers: Früher mögen sich Jugendliche noch vor ominösen Serienmördern gefürchtet haben, aber heute ist die Panik vor grundlosem Online-Bashing viel größer.
Fazit: Mit seiner stylischen Inszenierung und ohne mahnenden Zeigefinger ist „LenaLove“ ein mitreißender Thriller, der sich unerwartet ambitioniert mit Cybermobbing auseinandersetzt.