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    Die Armstrong Lüge
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Armstrong Lüge
    Von Tim Slagman

    Lance Armstrong hat nie die Tour de France gewonnen. Dieser Satz geht immer noch schwer über die Lippen, schließlich erinnern sich Radsport-Fans nur zu gut an die vielen Momente, in denen er Jan Ullrich an all den mörderischen Anstiegen der Frankreichrundfahrt davongefahren ist. Doch im Oktober 2012 wurden dem Texaner wegen Dopings alle sieben Titel aberkannt, die er zwischen 1999 und 2005 errungen hatte. Obwohl bereits in den Vorjahren einige Radfahrer bestraft wurden, schien der mächtige Armstrong unantastbar. Zudem glaubten viele Anhänger lange seinen Beteuerungen, unschuldig zu sein, so auch Oscarpreisträger Alex Gibney („Taxi To The Dark Side“), der eigentlich an einer Dokumentation über die sagenhafte Comeback- und Erfolgsgeschichte des einst krebskranken Armstrongs arbeitete und schließlich erkennen musste, dass er einem hartnäckigen Lügner aufgesessen war. In „The Armstrong Lie“ erzählt Gibney davon, wie er sich rückwirkend die Wahrheit zusammensetzen musste – genau wie so viele andere auch, die Armstrong nun mit anderen Augen sehen. Dieser fragende, tastende Ansatz macht Gibneys Film in seinen besten Momenten auch zu einer Reflexion über die Verführbarkeit und Verantwortung des Dokumentarfilmers.

    Lance Armstrong, der 2005 seine Karriere eigentlich schon beendet hatte, kehrte 2009 noch einmal zur Tour zurück, dorthin, wo er seine größten sportlichen Erfolge feierte. Als Rekordgewinner hatte er Geschichte geschrieben, war aber auch ein Idol, weil er 1998 den Hodenkrebs besiegte und nach der Krankheit ein schier unglaubliches Comeback hinlegte. Als Lichtgestalt wurde er verehrt, galt als Vorbild und Hoffnungsträger, und sah sich doch stets hartnäckigen Doping-Vorwürfen ausgesetzt, die er häufig mit großer Aggressivität beantwortete. 2009 sollte der Beweis folgen, ein neuer Tour-Sieg, dieses Mal garantiert sauber – ein Triumphzug, aufgezeichnet von den Kameras des renommierten Dokumentarfilmers Alex Gibney. Doch Armstrong wurde nur Dritter, ab 2010 kamen dann immer mehr und vor allem immer stichhaltigere Doping-Vorwürfe auf, bis Armstrong schließlich im Januar 2013 gestehen musste, jahrelang gedopt zu haben. In „The Armstrong Lie“ nutzt der Regisseur sein Material von den Dreharbeiten 2009 und aktuelle Recherchen, um mit der für ihn typischen Mischung aus Interviews und Archivmaterial weniger das Porträt eines Mannes als vielmehr das einer Lüge zusammenzusetzen. Dabei entsteht auch das Bild einer Welt, in der für den Sieg alles geopfert wird.

    Die Arbeitsweise bei „The Armstrong Lie“ ist für Gibney absolut ungewöhnlich. Egal, ob er von den unheilvollen Taten der „smartest guys in the room“ von Enron oder von den Verfehlungen der katholischen Kirche in „Mea Maxima Culpa“ erzählt hat: Gibneys Filme haben eine klare Aussage, die dem Regisseur als Ausgangspunkt dient. Noch bevor die Dreharbeiten beginnen, weiß Gibney in der Regel schon, was er zeigen will. Dies ist bei „The Armstrong Lie“ im Ansatz auch der Fall, schließlich lässt bereits der Titel wenig Raum für Ambivalenzen. Wo man aber sonst oft das Gefühl hat, jedes Bild und jeder Kommentar stünden völlig im Dienste einer unverrückbaren Botschaft, klingt aus dem Voiceover-Kommentar des Regisseurs dieses Mal immer wieder Erstaunen und Verblüffung. Wenn Armstrong bei seinem Tour-Auftritt von 2009 die Berge hochkraxelt, sagt Gibney dazu: „Auch da hat er mich getäuscht.“ In den schwächeren Augenblicken klingen die Aussagen des Regisseurs etwas larmoyant und beleidigt, in den besseren aber wie eine klare, unterschwellige Warnung. Passt auf, scheint Gibney zu sagen, Bilder, auch meine Bilder, können lügen.

    Wer schon mehrere Filme von Alex Gibney gesehen hat, kennt die klassische Einblendung „XY declined to be interviewed for this film.“ In dem ebenfalls 2013 veröffentlichten „We Steal Secrets“ nimmt der Versuch, Hauptfigur Julian Assange zu interviewen bzw. dessen Forderungen, sogar einiges an Raum ein. Man hat sich daran gewöhnt, dass Gibney öfter die Unterstützer seiner Anklagen vor die Kamera bekommt als die Angeklagten. In „The Armstrong Lie“ ist dies anders. Auch hier sprechen ehemalige Team-Kollegen wie Floyd Landis und Frankie Andreu offen über Doping, klagen ihren ehemaligen Kapitän an, doch auch der kommt ausgiebig zu Wort. Lance Armstrong ließ sich nach den öffentlichen Enthüllungen noch einmal von Gibney befragen und sogar der berüchtigte Doping-Arzt Eufemiano Fuentes kommt zu Wort. Allerdings nutzt Gibney diese besondere Möglichkeit nicht vollends. Vieles, was hier gesagt wird, ist nur zu gut bekannt, die ein oder andere härtere, bohrendere Nachfrage wäre wünschenswert gewesen.

    Fazit: In „The Armstrong Lie“ legt Alex Gibney die Unsicherheit und den Rechercheweg des Dokumentarfilmers offen und warnt vor der verführerischen Kraft der Bilder. Auch wenn die Interviews mit den Beschuldigten wenig neue Erkenntnisse bringen, ist der Film als Zusammenfassung eines düsteren Kapitels der Radsport-Geschichte in jedem Fall sehenswert.

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