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    Alice im Wunderland 2: Hinter den Spiegeln
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Alice im Wunderland 2: Hinter den Spiegeln
    Von Thomas Vorwerk

    Tim Burtons „Alice im Wunderland“ von 2010 gehört zu den bisher zwei Dutzend Filmen, die weltweit über eine Milliarde Dollar eingespielt haben – das lag nicht zuletzt daran, dass das Disney-Spektakel für die ganze Familie im direkten Gefolge von „Avatar - Aufbruch nach Pandora“ und damit auf dem Höhepunkt des 3D-Fiebers in die Kinos kam. Während der kanadische Box-Office-König James Cameron schon seit Jahren an inzwischen gleich vier „Avatar“-Fortsetzungen bastelt und am liebsten wohl alles selber machen würde, begnügt sich Tim Burton beim „Alice“-Sequel mit der Rolle eines Produzenten. Auf dem Regiestuhl des farbenprächtigen Nonsens-Fantasy-Abenteuers nach den Büchern von Lewis Carroll hat indes nach zwei „Muppets“-Kinofilmen James Bobin Platz genommen: „Alice im Wunderland - Hinter den Spiegeln“ ist wie schon der Vorgänger bunte, abwechslungsreiche und manchmal etwas unrunde Unterhaltung für Groß und Klein.

    Nach einer längeren Schiffsreise nach China kehrt Alice Kingsleigh (Mia Wasikowska) ins London des Jahres 1875 zurück. Inzwischen ist sie sogar zum Captain aufgestiegen! Weil der von ihr verschmähte Lord Hamish Ascot (Leo Bill) sie zwingen will, das Schiff ihres Vaters zu versetzen, flüchtet sie erneut ins (W)Underland. Ihr alter Freund Tarrant Hightopp (Johnny Depp), der „verrückte Hutmacher“, hat unterdessen mit Verspätung den Verlust seiner gesamten Familie realisiert, sein Herz ist gebrochen. Doch Alice, die sich vom Unmöglichen nicht einschüchtern lässt, will der Personifikation der Zeit (Sasha Baron Cohen) eine mysteriöse Zeitmaschine, die „Chronosphäre“, entwenden und in die Vergangenheit reisen, um die Hightopps zu retten, bevor sie beim Angriff des Jabberwocky umkommen. Dummerweise hat aber die heimlich aus dem Exil zurückgekehrte Rote Königin Iracebeth (Helena Bonham Carter) ebenfalls eine Zeitreise geplant ...

    Drehbuchautorin Linda Woolverton, die seit einem Vierteljahrhundert hauptberuflich bekannte Geschichten ins passende Disneygewand kleidet (angefangen mit „Die Schöne und das Biest“ über die „Hamlet“-Variation „Der König der Löwen“ bis jüngst zum Realfilm-Prequel „Maleficent - Die dunkle Fee“), hatte auch schon das Buch zum ersten „Alice“-Film geschrieben. Doch demgegenüber setzt sie bei „Hinter den Spiegeln“ auf einen merklich veränderten Tonfall. Während es bei Tim Burton recht martialisch zur Sache ging, Köpfe vom Hals getrennt und Augen ausgepiekt wurden und sich wie in Narnia oder Mittelerde ganze Armeen (wenn auch aus seltsamen Spielkarten und Schachfiguren) bekämpften, ist diesmal alles eine Spur freundlicher. Der riesige Bandersnatch (eine Art Mischung aus Wachhund und Grizzlybär) oder der schlappohrige Bluthund Bayard (Stimme im Original: Timothy Spall) etwa, die zu Beginn des Vorgängers noch feindselig und gefährlich wirkten, erwarten nun als liebgewonnene Verbündete die Rückkehr von Alice, gleich neben dem früher mysteriösen, jetzt nur noch kuscheligen Grinsekater (Stephen Fry), der „guten“ Weißen Königin Mirana (Anne Hathaway), den wohlgenährten Zwillingen Diedeldum & Diedeldei (Matt Lucas), dem weißen Kaninchen McTwisp (Michael Sheen), dem Märzhasen Thackery (Paul Whitehouse) und der diesmal auf ihren Degen verzichtenden Haselmaus Mallymkun (Barbara Windsor).

    Viel stärker als im ersten Film ist Alice diesmal eine eigenständig handelnde Heldin, was natürlich auch am Reifeprozess der Hauptdarstellerin Mia Wasikowska („Jane Eyre“, „Madame Bovary“) liegt. Es ließe sich zwar etwas boshaft behaupten, Wasikowska fungiere vorrangig als Reiseführerin durch eine CGI-Ausstattungs-Sightseeing-Tour, deren guten Ausgang man nie wirklich in Zweifel zieht, aber andererseits kommt die hier servierte Mixtur aus ernstgenommenem Unsinn, der bevorzugt auf abgedrehten Wortspielen basiert, dem ursprünglichen Tonfall Lewis Carrolls näher als der erste Film. Und das obwohl nahezu alle Handlungselemente aus den beiden Kinderbüchern schon in Teil 1 „verarbeitet“ wurden und die Geschichte von „Hinter den Spiegeln“ ansonsten weitestgehend eine mit vertrauten Figuren bevölkerte Neuerfindung ist. Nach dem anfänglichen Erstaunen über eine Seeverfolgung durch chinesische Piratendschunken, die durchaus aus „Fluch der Karibik“ stammen könnte, ist die größte Überraschung des Films ein ungewöhnlicher Genrewechsel: „Alice im Wunderland 2“ entpuppt sich nämlich alsbald als waschechte Zeitreisegeschichte in kindgerechten Steampunkgewand - eine Art spielerische Science-Fiction in viktorianischem Setting.

    Wenn Alice zu Beginn des Films auf die kaputte Taschenuhr blickt, die ihr ihr Vater hinterlassen hat, sagt sie, dass die Zeit ein Dieb und ein Schurke sei – und wie zum Beweis zieht Sacha Baron Cohen dann als „Zeit“ eine ähnlich übertriebene Schurkennummer ab wie in „Ricky Bobby - König der Rennfahrer“ oder „Sweeney Todd“ (nur diesmal mit einem Akzent, der an das kultige Anglo-Bajuwarisch von Werner Herzog erinnert). Wenn „Zeit“ bei einer obligatorischen Tee-Party zum Gespött unzähliger Kalauer wird, darf sich der köstliche und für die Handlung elementare Wortwitz voll entfalten: So hat der in einer Festung mit Zifferblattfassade lebende „Zeit“, hinter dessen menschlich wirkendem Äußeren sich eine Art Uhrmechanik verbirgt, einige „Helferlein“, die in der Originalfassung des Films „seconds“ genannt werden. Ob und wie in der Synchronfassung die Doppelbedeutung des Wortes als „Sekunden“ und „Sekundanten“ erhalten bleibt, wird sich zeigen, aber wenn die kleinen Wesen, die wie Ölkannen oder Standuhren aussehen, sich später in Gruppen zu gefährlicher wirkenden „Minuten“ zusammensetzen, dann ist das die Disney-Antwort auf die „Transformers“ - nur eben aus putzigem Altmetall-Geraffel.

    „Zeit“-Motive und -Anspielungen sind in „Hinter den Spiegeln“ bis zum durchaus rasanten Showdown mit einer Art Zeit-Rost, der nach einer Verletzung des Raum-Zeitgefüges das gesamte Underland zu zersetzen droht, allgegenwärtig und wenig überraschend erweisen sich die Vergänglichkeit und das Alter(n) neben einigen Generationskonflikten als die wichtigsten Themen des Films. Die Zeitreisen erlauben uns dabei, die oben aufgezählten „Neben-“Figuren des Films in unterschiedlichstem Alter zu erleben. So sehen wir beispielsweise, wie der in der „Gegenwart“ todtraurige Hutmacher verrückter und verrückter wurde, aber auch dass die zwei sehr unterschiedlichen Königinnen einst durchaus ähnliche kleine Prinzessinnen waren, ehe der Älteren ihr Titel versagt wurde und sie ihren übermäßig großen Kopf bekam (woran die ach so zuckersüße Schwester nicht ganz unschuldig ist). Bei James Bobin geht es im Übrigen trotz diverser pfiffiger visueller Ideen (die Schergen der Roten Königin sind diesmal den „Gemüsegesichtern“ von Giuseppe Arcimboldo nachempfunden) nie so abgedreht-psychedelisch zu wie bei Tim Burton – auch die Cover-Version von Jefferson Airplanes „White Rabbit“, die Popstar Pink im Nachspann liefert, ist eher zahm - bis zur disneytypisch etwas dick aufgetragenen finalen Beschwörung von Familienwerten.

    Fazit: „Hinter den Spiegeln“ ist bunter, kindgerechter und stromlinienförmiger als der Vorgänger „Alice im Wunderland“.

    PS: Unbedingt erwähnt werden muss noch, dass die blaue Raupe Absolem, die schon in „Alice im Wunderland“ zum Schmetterling wurde, im neuen Film auch ein paar kurze Auftritte hat. Gesprochen wird sie im Original auf unnachahmliche Weise vom Anfang 2016 verstorbenen Alan Rickman, dem „Hinter den Spiegeln“ auch gewidmet ist.

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