Anlässlich des amerikanischen Kinostarts des britischen Dramas „Philomena“ entbrannte wieder einmal eine Diskussion um die Altersfreigabe. Die zuständige Behörde MPAA gab dem Film ein sogenanntes R-Rating (Zuschauer unter 17 Jahren können nur in Begleitung von Erziehungsberechtigten ins Kino), was der umtriebige US-Verleihchef Harvey Weinstein ungewöhnlich scharf attackierte. Er argumentierte, dass das meist eher Horrorfilmen und derben Komödien vorbehaltene Rating, das dem Drama nur wegen der zweimaligen Verwendung des Wortes „Fuck“ (erlaubt ist es nur einmal) verpasst wurde, viele konservative Familien und ältere Kinobesucher verprelle. Diese nähmen, so die streitbare Produzentenlegende weiter, bei Filmen mit diesem Rating grundsätzlich von einem Kinobesuch Abstand. Weinsteins intensive Kampagne, im Rahmen derer Hauptdarstellerin Judi Dench sogar noch einmal in ihre Rolle als Bond-Chefin „M“ schlüpfte, war erfolgreich und der Film bekam die wesentlich lockerere PG 13-Freigabe. Eine gute und richtige Entscheidung, denn „Philomena“ ist ein unbedingt sehenswerter Film – für Jung und Alt! Regisseur Stephen Frears („High Fidelity“, „Die Queen“) entfaltet seine erschütternde auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte in ihrer vollen dramatischen Wucht, wobei seine Erzählung trotzdem geradezu leichtfüßig bleibt und voller Humor steckt.
Nachdem er seinen Job als politischer Strippenzieher auf unschöne Art und Weise verloren hat, spielt Ex-Journalist Martin Sixsmith (Steve Coogan) mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben. Er wird auf die Geschichte von Philomena (Judi Dench) aufmerksam, die seit über 50 Jahren ihren Sohn sucht. Obwohl Sixsmith sonst nichts von Storys über „menschliche Schicksale“ hält, trifft er die alte Frau. Die erzählt ihm, wie sie als junges Mädchen (Sophie Kennedy Clark) in einem irischen Nonnenkloster aufwuchs und nach einer kurzen Liebschaft schwanger wurde. Nachdem sie ihren Sohn Anthony zur Welt gebracht hatte, sperrten sie die Nonnen im Kloster ein und beuteten sie als billige Arbeitskraft aus. Das Kind gaben die Schwestern mit drei Jahren an eine Familie zur Adoption, ohne Philomena die Möglichkeit zu geben, sich von ihm zu verabschieden. Martin ist von diesem Schicksal durchaus berührt, bleibt aber skeptisch. Dennoch begleitet er die gutmütige, strenggläubige Philomena bei einem ihrer regelmäßigen vergeblichen Versuche im Kloster mehr über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren. Martin durchschaut die Mauertaktik der Nonnen schnell und als er im örtlichen Pub erfährt, dass im großen Stil Kinder an amerikanische Familien verkauft wurden, beschließt er endgültig, sich dem Thema zu widmen. Seine Verlegerin (Michelle Fairly) hofft beim Stichwort „teuflische Nonnen“ auf einen Verkaufsschlager und schickt so Martin mit Philomena zur weiteren Suche nach Anthony in die USA.
„Philomena“ basiert auf dem Buch „Lost Child Of Philomena Lee“, das passend zum Kinostart im Februar 2014 unter dem Titel „Philomena: Eine Mutter sucht ihren Sohn“ auch in Deutschland erscheint. Ex-Journalist Martin Sixsmith erzählt darin die bewegende Geschichte einer ausgebeuteten Mutter, die wissen will, was mit ihrem Sohn passiert ist, der als kleiner Junge gegen ihren Willen weggegeben wurde. Die treibende Kraft hinter der Verfilmung war Komiker und Hauptdarsteller Steve Coogan („Tropic Thunder“), der das Projekt als Produzent anschob und auch das Drehbuch verfasste. Gemeinsam mit seinem Co-Autor Jeff Pope („Mrs. Biggs“) und Regisseur Stephen Frears gelang ihm das Kunststück, die tragische Reichweite der Geschichte nicht abzuschwächen, aber sie trotzdem in einem überraschend humorvollen Tonfall zu erzählen: „Philomena“ ist ein aufwühlendes, zuweilen gar zu Tränen rührendes Drama und eine leidenschaftliche Anklage der unglaublichen von vermeintlichen Gottesdienerinnen begangenen Verbrechen, streckenweise aber auch eine Komödie mit britisch-trockenem Humor. Bei den Reibereien zwischen der gottesfürchtigen, optimistischen Philomena und dem abgebrüht-zynischen Martin sprühen komische Funken, die gemeinsamen Erlebnisse des wunderbar ungleichen Duos stehen hier eindeutig im Mittelpunkt – anders als in der Buchvorlage, wo Philomenas Jugend und die Lebensgeschichte von Anthony sehr großen Raum einnehmen.
Ein Film wie „Philomena“, bei dem es so stark auf Nuancen und Zwischentöne ankommt, steht und fällt mit der Klasse seiner Schauspieler. Und in dieser Hinsicht hat Regisseur Frears mit Oscar-Preisträgerin Judi Dench („Best Exotic Marigold Hotel“) und Tausendsassa Steve Coogan zwei ideale Hauptdarsteller zur Verfügung. Sie zeichnen zwei überaus lebendige Charakterporträts und arbeiten dabei auch die Gegensätze zwischen den beiden Figuren feinfühlig heraus. So zeigt der bisher vor allem als Komiker bekannte Coogan wie schon zuletzt in Michael Winterbottoms „The Look Of Love“ seine Vielseitigkeit und macht die Wandlung des Martin Sixsmith vom spöttisch-desillusionierten Zyniker, der von Philomenas Leichtgläubigkeit, von ihrer Sentimentalität und ihrer Vorliebe für seichte Literatur genervt ist, zum engagierten Kämpfer und wütenden Ankläger im bewegenden Finale jederzeit nachfühlbar. Dabei meidet er die große Geste und nimmt sich zurück: Wenn der Misanthrop und seine grenzenlos optimistische Begleiterin aufeinanderprallen, ist das auch ohne verstärkendes Zutun der Darsteller oder des Regisseurs meist sehr komisch. So etwa wenn der leicht hochnäsige Bildungsbürger Martin in Washington fassungslos miterleben muss, wie die eher unbedarfte Philomena ernsthaft überlegt, ob sie nicht lieber die derbe Komödie „Big Mamas Haus“ im Hotel-TV anschauen will als das Lincoln-Memorial zu besuchen.
Steve Coogan überlässt seiner Partnerin Judi Dench immer wieder bereitwillig die Bühne. Die nutzt sie zu einer feinnervigen, fast minimalistischen und überaus präzisen Darstellung. Die vom Schicksal gebeutelte Philomena trägt eine Art Schutzpanzer und strahlt nach außen Gleichmut aus, nur in kurzen Momenten lässt Dench ihre wahre Gemütsverfassung hinter der in die Gewissheiten des festen Glaubens eingehüllten Fassade aufblitzen. Philomena vergibt den Nonnen im Kloster nicht nur, sie verteidigt die Schwestern selbst dann noch, als sich im Verlauf der Handlung immer tiefere Abgründe auftun und eine ungeheuerliche Tat aus der jüngeren Vergangenheit die alten Demütigungen in den Schatten stellt. Eine solche Protagonistin ließe sich allzu einfach entweder als naiv und dumm brandmarken oder alternativ zu einer Art Heiligen stilisieren, aber Dench und auch Regisseur Stephen Frears umschiffen die Klippen oberflächlicher Klischees genauso wie die Strudel übermäßiger Sentimentalität. Der Regieveteran erkennt, dass die reinen Fakten von Philomenas Geschichte schon erschütternd genug sind und hält sich entsprechend zurück. Nur bei der Rückblende in die Jugendzeit im Kloster sucht Frears die Wirkung etwa durch die mehrfache Wiederholung des Moments, in dem Philomena hilflos schreiend beobachten muss wie ihr Kind weggegeben wird, noch zu verstärken. Letztlich erweisen sich spätere unaufgeregt-beiläufig inszenierte, aber inhaltlich ähnlich dramatische Wendungen jedoch als weitaus intensiver.
Fazit: Stephen Frears‘ „Philomena“ ist ein Film, in dem Ernstes und Heiteres auf elegante Weise zusammenkommt. Mit viel Herz und einer überraschend großen Portion Humor erzählt er eine erschütternde und im Kern hochdramatische Geschichte über Schuld und Vergebung, die er mit Hilfe seiner großartigen Darsteller Judi Dench und Steve Coogan zu einem überaus sehenswerten Drama verdichtet.