Die jungen Oberhausener und die Münchner Kinorevoluzzer der 1960er Jahre haben sich trotz all der Zwänge und Nöte im Filmgeschäft mit den enormen Produktionskosten und den diffizilen arbeitsteiligen Produktionsprozessen ungeheure Freiheiten genommen. Doch irgendwann hat dann die Institutionalisierung des Neuen Deutschen Films angefangen. So wurde der Grundstein für eine Kinoindustrie gelegt, die stark von Fernsehredakteuren und ihren Vorstellungen von Filmen bestimmt wird. Ausbruchsversuche sind rarer geworden. Aber dennoch gibt es sie. Zum einen in Form eines neuen deutschen Genrekinos; und zum anderen in Gestalt der sogenannten Berliner Schule. Ein Begriff, der eigentlich längst obsolet ist, es sei denn, er wird direkt mit einem bestimmten Verständnis von Freiheit verknüpft. Filmemacher wie Thomas Arslan und Christoph Hochhäusler, Nicolas Wackerbarth und Angela Schanelec, Maria Speth und Benjamin Heisenberg, verbindet vor allem ihr Wille, ihre eigene Vision von Kino umzusetzen. Und eben dieses Beharren auf eine künstlerische Freiheit, die sich nicht den stromlinienförmigen Modellen unterwirft, wie sie zu oft von Fördergremien und Fernsehredaktionen bevorzugt werden, zeichnet auch Heisenbergs dritten Spielfilm „Über-Ich und Du“ aus. Auf die Polittragödie „Schläfer“ und den Thriller „Der Räuber“ folgt nun eine bizarre Komödie, in der sich Absurdes und Albernes auf befreiende Weise durchmischen.
Nick Gutlicht (Georg Friedrich) ist auf der Flucht. Ein wunderliches Gangstersyndikat, das von ‚Mutter’ (Maria Hofstätter), einer grotesken Grande Dame des Verbrechens, geleitet wird, ist hinter dem Kleinkriminellen her. Von einem Bekannten hat er gehört, dass eine Villa draußen vor der Stadt leer steht. Also macht sich Nick ins schicke Umland auf und dringt in das Haus ein. Nur ist dessen Besitzer, der berühmte Psychoanalytiker Curt Ledig (André Wilms), noch gar nicht abgereist. Er gibt gerade ein Fernsehinterview und sucht nach einem Weg, den Fängen seiner übervorsorglichen Tochter und deren Familie zu entfliehen. Da kommt ihm Nick, der sich als von der Familie bestellter Haussitter ausgibt, ganz recht. Der kann sich schließlich auch um ihn kümmern. So hat Ledig eine Möglichkeit, in seinem Haus zu bleiben und an dem Vortrag zu arbeiten, den er in einigen Wochen auf einem Symposium halten soll. Außerdem erkennt der Psychoanalytiker, der selbst zahlreiche Spleens und Macken hat, in dem gewitzten Nick schon bald einen interessanten Fall.
Mit dem Wahrscheinlichen hält sich Benjamin Heisenberg in dieser ironischen Hommage an die Psychoanalyse gar nicht erst auf. Er erschafft sich von Anfang an eine eigene Welt, in der einfach alles möglich ist, in der sich ein aus proletarischen Verhältnissen kommender Dieb auf seltene und teure Bücher spezialisiert hat, in der selbst Schlägertypen in Ehrfurcht vor einer Brockhaus-Gesamtausgabe erstarren und ein Psychoanalytiker all seine Ticks und Phobien auf rätselhafte Weise auf einen anderen Menschen überträgt. Ein absonderliches Band verknüpft Nick Gutlicht und Curt Ledig, ein Band aus Schuld und Schulden. An Ersterem trägt der Psychoanalytiker seit der NS-Zeit, als er von Joseph Goebbels protegiert wurde, schwer. Letztere bringen den Kleinganoven in eine überaus missliche Situation, in die er schließlich Ledig mit hineinzieht. Aus Schulden erwächst Schuld, und aus Schuld erwachsen wiederum Schulden. Darin liegt der mal abgründige, mal verspielte, aber immer doppelsinnige Witz dieser eigenwilligen Komödie.
Einmal nennt die Buchhändlerin Norah (Susanne Wolff) ihren Freund und Lieferanten Nick sarkastisch und eben doch auch voller Bewunderung eine „Promenadenmischung aus einer Kanal- und einer Leseratte“. So etwa ließe sich auch „Über-Ich und Du“ beschreiben. Alles Reine, Unverfälschte, ist dieser Komödie fremd. Die höchsten Höhen alles Denkens und Strebens lassen sich nun einmal nicht fein säuberlich von den tiefsten Tiefen des alltäglichen menschlichen Treibens trennen. Das eine kommt mit dem anderen in Berührung. Sie infizieren sich gegenseitig, so wie Nick plötzlich unter Ledigs Küchenphobie leidet und von dessen nervösem Zucken der Augenlider gequält wird. Er, der bisher nie zurückblickte, dem das Vergangene gleichgültig und jede Form von Verantwortung fremd war, zeigt Symptome der Schuld. Aber auch Ledig wird ein anderer. Einmal verprügeln ihn ‚Mutters’ Schergen. Er ist mit Nick zusammen, also auch für dessen Schulden verantwortlich. Damit erwachen gleich auch seine kriminellen Phantasien.
Als Curt Ledig und Nick Gutlicht sind André Wilms („Le Havre“) und Georg Friedrich („Contact High“) ein wahres odd couple. Und das gilt nicht nur für ihre Figuren, die in diesem philosophischen buddy movie sich auf komödiantische Weise immer näher kommen. Auch als Schauspieler bilden sie ein wahrhaft ‚seltsames Paar’. Der elegante, immer von einer Aura des Melancholischen und Verlorenen umgebene André Wilms, der mit Aki Kaurismäki und François Ozon, mit Claude Chabrol und Patrice Leconte, gedreht hat, nimmt sich wie meist so weit wie möglich zurück. Selbst Ledigs Ticks haben etwas ungeheuer Natürliches. Sie fallen auf und wirken dennoch fast selbstverständlich. Wilms balanciert perfekt auf der Grenze zwischen Genialität und Altersdemenz. Es wird einem kaum bewusst, dass Ledig eigentlich immer nur einen kleinen Schritt davon entfernt ist, ganz im Dunkel zu versinken.
Diese grandiose Subtilität trifft auf die ebenso überwältigende Virilität, mit der sich der Wiener Schauspieler Friedrich all seine Rollen aneignet. Bei dem Österreicher muss alles an die Oberfläche. Jedes Zucken seiner Lider ist eine große Geste der Verunsicherung und Verzweiflung. Nichts kann dem Betrachter entgehen. Friedrich steht in jeder seiner Szenen im Mittelpunkt, und genau das macht ihn zum perfekten Mit-Spieler für Wilms. Die beiden ergänzen sich nicht nur. Der Zusammenprall dieser so unterschiedlichen Schauspielstile schafft in einer Art kreativer Explosion genau den Freiraum, den Regisseur Benjamin Heisenberg braucht.
Fazit: „Über-Ich und Du“ ist eine ebenso wundersame wie wundervolle Komödie. Sublimer Witz und brachialer Humor, intellektuelle Scherze und triviale Gags, verschmelzen zu etwas Einzigartigem. In Interviews verweist Benjamin Heisenberg dabei immer wieder darauf, dass ihn dieses Projekt schon seit Jahren beschäftigt hat. Es habe lange gedauert, bis es diese ganz und gar freie, von keinerlei Konventionen belastete Form gefunden hat. Aber das war es wert.