Der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus wurden in der jüngeren deutschen Filmgeschichte ausgiebig behandelt. Nachdem die Protagonisten des Neuen Deutschen Films das Schweigen gebrochen hatten, das zu Zeiten von Opas Kino noch undurchdringlich schien, wurde das Thema von praktisch jeder denkbaren Seite beleuchtet. Die unmittelbare Nachkriegszeit allerdings – die sogenannten Trümmerjahre – stand eher selten im Zentrum von Filmen. Zwar gab es Rainer Werner Fassbinders berühmte BRD-Trilogie und später einige Beiträge wie „Anonyma - Eine Frau in Berlin", doch bleibt die Zeit der Entbehrung, des Wiederaufbaus und der ersten kalten Nachkriegswinter noch immer ein heikles Thema. Viel Fingerspitzengefühl bedarf es, um von deutschem Leiden zu berichten, ohne das Tätervolk zum Opfer zu machen. Diese moralische Zwickmühle filmisch auszuloten ist den meisten Regisseuren offenbar schlicht zu heikel. Die Australierin Cate Shortland („Somersault") versucht es dennoch und erzählt in ihrer internationalen Co-Produktion „Lore" eine dramatische Geschichte aus Deutschland zur Stunde Null. Was vielversprechend als düstere Kindergeschichte mit Elementen des Road-Movies beginnt, entwickelt sich zu einer historischen Lektion mit aufgesetzter didaktischer Pointe.
Der Krieg ist aus. Hitler ist tot, das NS-Regime Geschichte. Die Welt atmet auf, in Deutschland schlägt die Stunde Null. Die Menschen fragen sich, wie die Besatzer mit dem besiegten Volk umgehen werden und stellen sich darauf ein, dass man ihnen mit der gleichen gnadenlosen Härte begegnen wird, mit der bis vor kurzem Wehrmacht und SS gewütet haben. So geht es auch den linientreuen Eltern (Ursina Lardi und Hans-Jochen Wagner) der vierzehnjährigen Hannelore, kurz Lore (Saskia Rosendahl) genannt. Sie fliehen überstürzt aus dem Herrenhaus im Schwarzwald und lassen Lore mit ihren vier kleineren Geschwistern zurück. Für die Kinder ist dies der Anfang einer langen Reise durch Wälder und Ortschaften des besiegten Deutschlands mit dem rettenden Ziel Hamburg, wo die Großmutter lebt. Auf ihrem Weg sieht sich Lore neben Hunger und anderen Entbehrungen auch der Gefahr ausgesetzt, von amerikanischen oder russischen Soldaten verhaftet oder gar vergewaltigt zu werden. Bald heftet sich Thomas (Kai-Peter Malina) an ihre Fersen – ein vermeintlicher Auschwitz-Überlebender, der eigene Interessen verfolgt. Manch verliebten Blick wirft der Backfisch Lore auf Thomas, auch wenn ihr Judenbild eher negativ geprägt ist...
Die kindlich-jugendliche Perspektive erweist sich hier in vielerlei Hinsicht als Glücksgriff. Wie in der Buchvorlage von Rachel Seiffert („Lore" ist der mittlere Teil aus „Dunkle Kammer", einer Romantrilogie in einem Band) werden Fragen nach der deutschen Schuld auf die abwesenden Eltern abgewälzt, die von Beginn an wie Gespenster wirken. Doch ihre Schuld und damit die der Deutschen an sich wird nicht einfach ausgeblendet. Wenn Lore zu Beginn ihr Elternhaus im Schwarzwald verlassen muss, ist das nicht nur das Ende einer unbeschwerten Kindheit, sondern auch der Beginn eines Opfergangs für die Sünden der Väter und Mütter. Denn auf ihre Weise sind die Kinder ebenso überzeugte Nazis wie die Eltern, auch für sie bricht mit dem Ende des Krieges eine Welt zusammen.
Gerade in den Anfangsszenen gibt es immer wieder Momente wahrer Poesie: Wenn etwa Lores Eltern Akten und Papiere verbrennen und der Wind die glühenden Papierfetzen in den nahegelegenen Wald weht, in dem die Kinder spielen, ist das nicht nur eine schöne Idee, sondern auch eindrucksvoll umgesetzt. In den besten Momenten erinnern die Versuche, Unschuld und Kindheit einzufangen, an vergleichbare Szenen aus Terrence Malicks „The Tree of Life" mit seinen impressionistischen Bildern. Diese Aufnahmen von Emmanuel Lubezki dienten Shortlands Kameramann Adam Arkapaw, der schon den Down-Under-Shocker „Snowtown" und das Suburbia-Gangsterepos „Animal Kingdom" in faszinierende Bilder kleidete, offenbar als Vorbild. Die Kameraarbeit und mit Abstrichen auch der Beitrag von Komponist Max Richter („Waltz with Bashir") sind die herausragenden Elemente des australischen Oscar-Beitrags, gegenüber denen der Rest deutlich abfällt.
So gelungen „Lore" von der Gestaltung her oft ist, so schnell offenbaren sich auch dramaturgische Schwächen. Die Geschichte bietet einen guten Rahmen, um von einem packenden Abenteuer unter ernsten Vorzeichen zu erzählen, doch wird von Anfang an versäumt, ein emotionales Band zwischen Zuschauer und Protagonistin zu knüpfen. Eine pubertierende, ideologisch verblendete Figur wie Lore ist fraglos auch eine komplizierte, schwer zugängliche Figur. Doch trotz aller Mühen von Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl („Für Elise") erwacht Lore nie wirklich zum Leben und bleibt mit all ihren komplizierten Widersprüchen ein Konstrukt. Den kleinen Geschwistern ergeht es in der mal gehetzt wirkenden und mal langatmigen Erzählung sogar noch schlimmer: Nele Trebs („Die Tür") als kleine Schwester Liesel darf im Wechsel ängstlich und zickig sein, während die jungen Brüder zur reinen Staffage werden, deren Schicksal selbst wenn es auf Leben und Tod geht kaum berührt.
Auch die vielfältigen Möglichkeiten, die das komplizierte Verhältnis zwischen Lore und Thomas bietet, das irgendwo zwischen jugendlichem Begehren und antisemitischen Ressentiments angelegt ist, werden kaum genutzt. Statt echter Ambivalenz gibt es hier einfallslos wirkende Nüchternheit. Wenn der Nazi-Sprössling auf der Flucht und der vermeintlich aus Auschwitz Entkommende sich näherkommen, dann bleiben in Shortlands unterkühlter Inszenierung die eigentlich doch so starken Gefühle auf der Strecke. Die Regisseurin setzt sich zwischen die Stühle: Auf der einen Seite erzählt sie in Ansätzen eine düster-abenteuerliche Geschichte vom Ende der Kindheit, gleichzeitig soll aber offenbar alles politisch korrekt zugehen und aufgeklärt sein.
Statt mit Spannung oder spekulativem Schrecken vom Ende der Kindheit im Schatten des Kriegs zu erzählen und den Frontalangriff auf Herz und Nerven des Publikums zu wagen, geht Shortland auf Nummer sicher. Spätestens wenn Lore am Ende das Haus der Großmutter erreicht und im Epilog noch schnell eine fadenscheinige „Gegen das Vergessen"-Moral breitgewalzt wird, ist dem Film anzumerken, dass die Macher weder dem eigenen Konzept eines düsteren Märchens noch dem Publikum so ganz trauen. Denn was hier mit dem Zaunpfahl verkündet wird, haben die Zuschauer in dem Moment längst verstanden.
Fazit: Die Idee, ein deutsches Trümmermärchen als Road-Movie in Wald und Wiesen aus Kinderperspektive zu erzählen, zeugt von Wagemut und Lust am Experiment. Trotz schöner atmosphärischer Bilder fehlt es der Umsetzung letztlich allerdings an Konsequenz und filmischer Eigenständigkeit.