Wie das Private mit dem Politischen verbunden ist, zeigt der französische Regisseur Vincent Dieutre in seinem sperrigen, aber höchst interessanten Essayfilm „Jaurès“, der bei der Berlinale 2012 mit dem Teddy-Special-Award ausgezeichnet wurde. Aufnahmen von afghanischen Asylsuchenden, die unter einer Brücke in Paris ein kaum menschenwürdiges Dasein fristen, verknüpft Dieutre mit Reflektionen über seine langjährige, geheime Affäre mit einem Sozialarbeiter. Ohne die Parallelen über Gebühr zu strapazieren, gelingt Dieutre ein vielschichtiger Film über Erinnerungen, Wahrnehmung und die Liebe.
Jaurés ist der Name einer oberirdischen Metro-Station im Nordosten von Paris, einer Gegend, die nicht zu den besten der Hauptstadt zählt. Der Ausländeranteil ist groß und so ist es wohl kein Zufall, dass genau hier afghanischen Flüchtlingen gestattet wurde, unter der Metro-Brücke, direkt am Canal Saint-Martin (genau: dort ließ Amélie Steine springen) ein Lager aufzumachen. Auf der anderen Seite des Kanals hatte der Sozialarbeiter Simon eine kleine Wohnung, ein Liebesnest, das etliche Jahre praktisch ausschließlicher Schauplatz seiner Affäre mit Vincent Dieutre war. Im Geheimen trafen sich die beiden Männer, verbrachten viele Nächte zusammen, teilten ansonsten aber nicht ihren jeweiligen Alltag.
Für Sozialarbeiter Simon bestand dieser unter anderem darin, sich für die Situation von Flüchtlingen einzusetzen, die in Frankreich Wellen der Repression ausgesetzt sind. Dieutre dagegen setzte auch in der kleinen Wohnung seines Liebhabers seine filmische Arbeit fort und begann mit Aufnahmen aus dem Fenster von den in unterschiedlichen Farben erleuchteten Nachbarwohnungen, den Gleisen der Hochbahn, auf denen regelmäßig ratternd Züge vorbeizogen, und vor allem vom Geschehen in dem improvisierten Flüchtlingslager auf der anderen Kanalseite. Dort erscheinen zwar mal Polizei oder Sozialarbeiter, ansonsten sind die meist jungen, durchweg männlichen Flüchtlinge ganz für sich und ganz auf sich allein gestellt.
Diese Bilder formen nun die Basis von „Jaurès“, werden von Dieutre aber nicht einfach aneinandergereiht, sondern quasi als Bebilderung einer Unterhaltung gezeigt, die der Regisseur in einem Schneideraum mit seiner Freundin Eva Truffaut, der Tochter von Francois, dem berühmten Regisseur von Klassikern wie „Die letzte Metro“, führt. Mit ihr unterhält sich Dieutre über die inzwischen vergangene Affäre, ihre besondere, aber auch eigenartige Qualität, sein Leben, das ganz auf den Geliebten zugeschnitten war, seine Gedanken und Beobachtungen. Meistens hört man nur die Stimmen von Dieutre und Truffaut, nur manchmal - wie um den distanzierten, reflexiven Charakter zu betonen - wird zu Aufnahmen der Gesprächspartner geschnitten. Als zusätzlicher distanzierender Moment sind zudem einzelne Bildelemente animiert, bzw. kaum wahrnehmbar übermalt – mal eine Taube, die auf dem Fensterbrett entlang spaziert, mal eine Matratze, die die Flüchtlinge heranschaffen.
All diese Elemente erzeugen zusammen mit einem melancholischen, häufig wiederholten Klavierstück, eine zeitlose Atmosphäre, in der die Erinnerungen an eine vergangene Liebe, sich mit gegenwärtigen Überlegungen vermischen. Ohne dabei die Verbindungen zwischen den Ebenen des Privaten und des Politischen, des Innen und des Außen zu deutlich zu machen, gelingt es Dieutre dennoch, genau diese Verkettungen anzudeuten: Das Schicksal von Flüchtlingen mag zwar durch ein Fenster oder durch einen Kanal vom eigenen getrennt und damit so weit weg von der intimen Isolationen einer Wohnung, einer Affäre scheinen, es existiert aber nicht nur parallel.
Fazit: Mit „Jaurès“ ist dem französischen Regisseur Vincent Dieutre ein subtiler, sensibler Essayfilm gelungen, der mit einfachsten, aber bewusst eingesetzten Mitteln viel über das Verhältnis von Privatem und Politischem erzählt, vor allem aber die melancholische Erinnerung an eine vergangene Liebe schildert.