2011 sorgte J.C. Chandor mit seinem Spielfilmdebüt „Der große Crash - Margin Call“ für Aufsehen. In dem Börsen-Drama sezierte er mit scharfem Blick die Mechanismen der Finanzwelt, die messerscharfen Rededuelle angesichts des drohenden Totalzusammenbruchs brachten Chandor schließlich eine hochverdiente Oscar-Nominierung in der Kategorie Bestes Original-Drehbuch ein. Aber man soll sich bekanntlich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen und so schlägt der Regisseur und Autor bei seinem zweiten Kinofilm einen radikal entgegengesetzten Weg ein: Das Ensemblestück wird zur Ein-Mann-Odyssee, das Dialog-Feuerwerk weicht der fast vollkommenen Wortlosigkeit. Aber vielleicht ist der von Schauspiellegende Robert Redford verkörperte einsame Protagonist des Überlebens-Dramas „All Is Lost“ ja einer jener Finanzjongleure, die sich unbeschadet durch die weltweite Krise laviert haben - immerhin kann er sich eine solide Zwölf-Meter-Yacht leisten. Aber solche Gedankenspiele zur Identität seines namenlosen Schiffbrüchigen überlässt Chandor allein dem Zuschauer. Redford gibt nämlich nach einem sehr knappen einführenden Voice-Over-Kommentar in den folgenden 105 Minuten nur zwei Worte von sich: „Help“ und „Fuck“. Danach herrscht Totenstille! Der minimalistisch-unsentimentale „All Is Lost“, der seine Premiere bei den 66. Filmfestspielen in Cannes erlebte, besticht mit einem Robert Redford in herausragender Form, seine Leistung schlägt in den Bann und hilft auch über kleine ereignisärmere Durststrecken hinweg.
Pech wäre eine kolossale Untertreibung – wie ein Sechser mit Zusatzzahl im Unglückslotto muss diesem Mann sein Los vorkommen: Er treibt mit seiner havarierten Yacht mutterseelenallein in den Weiten des Indischen Ozeans, nachdem ein verirrter Container sein Boot an der Seite getroffen und ein Leck gerissen hat. Durch das eindringende Wasser sind Navigationsausrüstung und Funkgerät zerstört. Nur mit Mühe und Not bekommt der rüstig-flotte Segler jenseits der 70 das Riesenloch am Rumpf des Schiffes notdürftig zusammengekleistert. Doch am Horizont zieht bereits ein ausgewachsener Sturm auf, der sich unaufhaltsam auf die Yacht und ihren wackeren Skipper zubewegt.
Ein solch konzentriert-reduziertes Projekt wie „All Is Lost“ anzugehen, verlangt eine Menge Mut und ein gesundes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Das gilt nicht nur für die Akteure hinter der Kamera, sondern vor allem auch für den Schauspieler davor. Ohne Hauptdarsteller Robert Redford und seine Tour de Force hätte „All Is Lost“ leicht Schiffbruch erleiden können, aber der alte Hase bringt genau jene stille Intensität ein, die für eine solche Erzählung am Rande der (äußeren) Ereignislosigkeit benötigt wird. Denn „All Is Lost“ ist eben kein hyperaktives Überlebensdrama, in dem dramaturgische Kunstgriffe immer wieder für neue Kicks sorgen sollen. Chandors Herangehensweise ist vielmehr eher sachlich: Was würde ein routinierter, versierter Hobbykapitän in dieser Lage anstellen, um den Untergang zumindest so lange wie möglich herauszuzögern? Genau das zeigt uns der Regisseur in „All Is Lost“: Der Protagonist hockt nicht tatenlos und zaudernd auf seiner untergehenden Yacht, im Gegenteil. Er flickt das Loch im Boot und dank seiner offensichtlichen Segelerfahrung arrangiert er sich im Rahmen der Möglichkeiten perfekt mit den Gegebenheiten.
In Robert Redfords Darstellung gibt es kaum noch ein Echo der alten Sonnyboy-Zeiten in den 1970ern, als er sich mit Filmen wie „Zwei Banditen“ und „Der Clou“ als Charmebolzen unter den absoluten Hollywood-Superstars etablierte. Er porträtiert den unbekannten Segler vielmehr ganz uneitel als anpassungsfähigen Mann der Tat: Durch eine selbstgebastelte Konstruktion gewinnt er Kondenswasser zum Überleben, er liest sich in die Navigation mithilfe der Sterne ein, um sich in Richtung einer vielbefahrenen Schiffsroute zu bewegen und versucht, sein Funkgerät mit eifriger Bastelei zu reparieren. Er konzentriert sich aufs Wesentliche – Panik, Verzweiflung oder andere Gefühlsausbrüche lässt er nicht zu, auch in Selbstgespräche verfällt er nicht. Während etwa Tom Hanks und Robert Zemeckis in ihrer Robinsonade „Cast Away - Verschollen“ jede Seelenregung ihres Gestrandeten nach außen kehrten und außerdem für reichlich Hintergrundinformationen sorgten, halten sich Redford und sein Regisseur konsequent zurück.
Das Innere des Seglers ohne Namen bleibt uns genauso verborgen wie seine Vergangenheit, seine Seele ist blickdicht. Es ist nur zu sehen, wie der Mann mit den Herausforderungen der Unglückssituation umgeht. Das erschwert den emotionalen Zugang zu der Figur (nicht einmal Angst ist zu spüren), aber es gibt womöglich einen noch lebensechteren Eindruck von der Erfahrung eines Schiffbruchs und macht die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz deutlich. Dabei hat „All Is Lost“ etwas von einer abstrakten Versuchsanordnung über den existenziellen Kampf der auf sich selbst zurückgeworfenen Kreatur mit der Natur. In wunderschönen Unterwasseraufnahmen zeigt Chandor den Kreislauf des Lebens und Sterbens auch gelegentlich aus anderer Perspektive und durchbricht so die Eintönigkeit. Aber wenn einige Haie mehr oder weniger interessiert vorbeischauen, dann weicht er für ein paar Momente auch von seinem eigenen anti-dramaturgischen Konzept ab. Doch insgesamt holt J.C. Chandor aus seiner ambitionierten Prämisse Erstaunliches heraus, während sein Hauptdarsteller daran erinnert, was er für ein guter Schauspieler sein kann.
Fazit: In seinem reduziert-realistischen Segler-Drama „All Is Lost“ verzichtet Regisseur J.C. Chandor weitgehend auf dramaturgische Taschenspielertricks und zeigt stattdessen einfach nur einen famosen Robert Redford im einsamen Kampf gegen die mörderische Natur – ein zwar unspektakuläres, aber dennoch eindringliches Kinoerlebnis.