Eine mythische Liebesgeschichte aus Rum, Schweiß und Sperma (aber ohne Pfirsich)
Von Christoph PetersenMit seinem sommerlich-sinnlichen Coming-of-Age-Drama „Call Me By Your Name“ hat Luca Guadagnino nicht nur einen oscarprämierten Indie-Hit gelandet, sondern auch einer Frucht auf alle Zeit einen Platz in der Popkultur gesichert: Die Szene, in der Timothée Chalamet erst einen Pfirsich fingert, um das so geformte Loch dann als Onanie-Hilfe zu verwenden, wird jedenfalls nicht so schnell aus dem allgemeinen Gedächtnis verschwinden. Dabei geht die Szene in der Buchvorlage sogar noch weiter: Denn dort verspeist der von Armie Hammer gespielte Oliver die spermagefüllte Steinfrucht auch noch gierig. Aber das hätte dem Mainstream-Appeal der mitreißenden Liebesgeschichte womöglich geschadet.
In „Queer“ geht Luca Guadagnino aber sehr wohl diesen Schritt weiter. Denn diesmal läuft Daniel Craig als US-amerikanischem Expat in Mexiko-Stadt nämlich kein Pfirsichsaft, sondern Sperma an den Lippen und Wangen herunter. Aber dass die schwulen Sexszenen diesmal weniger metaphorisch, sondern sehr viel handfester daherkommen, hat noch am wenigsten damit zu tun, dass die Verfilmung des gleichnamigen Romans von „Naked Lunch“-Autor William S. Burrough eine sehr viel spitzere Zielgruppe haben dürfte: Statt eines „Call Me By Your Name 2“ gibt es hier ein schweiß-, alkohol- und opiumgetränktes Ringen um echte zwischenmenschliche Nähe, das vor allem im letzten Drittel so sehr ins Surreale abdriftet, dass man sich eher an die Filme von David Lynch („Mulholland Drive“) oder Ari Aster („Beau Is Afraid“) erinnert fühlt.
Mexiko-Stadt, in den 1940er-Jahren: Lee (Daniel Craig) ist aus den USA geflohen, weil ihn seine Opiumsucht dort immer wieder in juristische Schwierigkeiten gebracht hat. Weil er selbst kein Geld mehr verdienen muss, bestehen seine Tage überwiegend aus Alkohol, Drogen und der Suche nach Kameradschaft für die nächste Nacht. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob er für den Sex bezahlen muss oder nicht. Aber dann erblickt er eines Tages in einer Bar den sehr viel jüngeren Allerton (Drew Starkey). Lee ist wie vom Blitz getroffen, aber zunächst gelingt es ihm nicht einmal herauszufinden, ob der junge Mann ebenfalls homosexuelle Neigungen hat oder nicht.
Und selbst nach der ersten gemeinsamen Nacht ist es ein ewiges Hin und Her zwischen Anziehung und Abstoßung. Das Ziel seiner Begierde bleibt für Lee weiterhin ein Enigma: Geht Allerton mit ihm ins Bett, weil er es wirklich will? Oder gibt es den Sex nur, weil er seinem Liebhaber auch finanziell entgegenkommt? Lee sehnt sich nach vollkommenem gegenseitigen Verständnis und entwickelt deshalb ein Interesse an Telepathie. Aber um in solche Sphären zwischenmenschlicher Kommunikation vorzustoßen, bedarf es einer ganz bestimmten Lianenart tief aus dem südamerikanischen Dschungel…
Das historische Mexiko-Stadt, das Luca Guadagnino zeigt, wirkt, als sei der Ort komplett aus der Zeit gefallen. Selbst die Außensets wirken kulissenhaft, als ob jede zusammengeknüllt herumliegende Zeitungsseite und jeder Sprung im Straßenasphalt perfekt drapiert wurde. In den Stadtpanoramen, bei der Luftaufnahme einer Autobahn oder beim Abheben eines Flugzeugs verfestigt sich sogar der (im Abspann auch bestätigte) Eindruck, es hier teilweise mit abgefilmten Modellbauten zu tun zu haben. Modellbau spielt im surrealen letzten Drittel tatsächlich dann noch eine Rolle. Hier blickt Lee durch das Fenster einer Wohnkomplex-Miniatur mit einem riesengroßen Auge auf sein eigenes kleines Leben. Luca Guadagnino, der im erst vor wenigen Monaten erschienenen Liebesdreieck-Meistwerk „Challengers – Rivalen“ ein Tennismatch durch einen gläsernen Boden von unten gefilmt hat, geht also gewohnt stilwütig zur Sache.
Allerdings führt diese Entrücktheit der Welt auch zu einer Distanzierung von den Figuren: Zwischen Daniel Craig („Knives Out“) und Drew Starkey („Outer Banks“) funkt es trotz des Mehr an Körpereinsatz längst nicht so glaubhaft wie damals zwischen Timothée Chalamet und Armie Hammer. Allerdings liegt das garantiert nicht am Ex-Bond selbst: Gerade im ersten der drei Abschnitte der Geschichte offenbart er eine erstaunliche Verletzlichkeit, da scheint sogar immer wieder der verunsicherte, frischverliebte Teenager durch. Gerade wenn der sonst so abgeklärte Lee mal wieder nicht weiß, wie er sich Allerton gegenüber verhalten soll. Drollig ist das mitunter regelrecht, und das ist jetzt absolut nicht abwertend gemeint. Ganz im Gegenteil...
Alberto Barbera, der Chef des Filmfests Venedig, wo auch „Queer“ seine Weltpremiere feierte, hat in einem Interview verraten, dass er vorab bereits mehrere Fassungen des Films sehen konnte. Ihm persönlich habe dabei die längste mit einer Dauer von 3 Stunden und 20 Minuten am besten gefallen. Nach dem Sehen der „nur“ 135-minütigen Kinofassung können wir das sehr gut verstehen. Zwar gab es einige Zuschauer*innen, für die sich schon diese Version zu sehr hinzog, aber manchmal wirken Filme eben auch deshalb zu lang, weil sie in Wahrheit zu kurz sind: Gerade der zweite und vor allem der dritte Abschnitt, wenn Lee und Allerton erst zu einer Reise durch Südamerika aufbrechen und schließlich ins Herz des Dschungels vorstoßen, um dort mit Hilfe der Ayahuasca-Pflanze die Grenzen ihres eigenen Ichs aufzusprengen, lassen kaum genug Zeit, um sich völlig in dem epischen Trip zu verlieren.
Wobei das nicht heißt, dass es nicht trotzdem einige unvergessliche Szenen geben würde: Gerade wenn Luca Guadagnino die kitschige Redewendung der „ineinander verschmelzenden Körper“ buchstäblich versteht und eine erstaunlich sinnliche Variante von Brian Yuznas kultiger Gore-Satire „Society“ inszeniert, ist das sicherlich der surreale Höhepunkt einer potenziell selbstzerstörerischen Amour fou. So schlägt „Queer“ dank der Wurzel eines Lianengewächses auf der Zielgeraden noch mal völlig neue, immer überraschende Richtungen ein.
Fazit: Im Gegensatz zum emotional mitreißenden „Call Me By Your Name“ ist „Queer“ ein zunächst schweißnass-alkoholisierter und schließlich drogeninduziert-surrealer Trip, der vor allem intellektuell und ästhetisch stimuliert, aber nur in einigen besonders süßen Szenen auch tiefergehend berührt. Auf jeden Fall aber ist auch dieser Film des „Suspiria“-Regisseurs wieder mal eine absolut außergewöhnliche Kinoerfahrung, die das Publikum sicherlich spalten wird. Ganz im Gegensatz übrigens zu Daniel Craig, der als hoffnungslos Verliebter die vielleicht beste Performance seiner Karriere abliefert: getrieben, verletzlich und manchmal sogar regelrecht drollig.
Wir haben „Queer“ beim Filmfest Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.