„Anduni" heißt frei übersetzt „heimatlos". Der Begriff hebt ab auf die leidvolle Geschichte des armenischen Volkes, das im einstigen Osmanischen Reich blutigen Verfolgungen ausgesetzt war. Trauriger Höhepunkt der Exzesse waren die Massaker der Jahre 1915 bis 1917. Armenischen Schätzungen zufolge fanden bei dem Genozid, der von der Türkei bis heute nicht als solcher anerkannt wird, etwa 1,5 Millionen Menschen den Tod. Viele der Überlebenden flüchteten oder emigrierten und mussten sich – sozial und kulturell entwurzelt – in eine neue Umgebung einfügen. Von ihrer Sehnsucht nach Heimat künden die „Anduni"-Lieder. Einige davon sind in Samira Radsis beachtlichem Kinodebüt zu hören, in dem die tragischen Ereignisse von 1915 bis 1917 stets mitschwingen. Sie werden in dem weitgehend gelungenen Drama um die Selbstfindung und die Heimatsuche einer jungen, in Köln lebenden Frau mit türkisch-armenischen Wurzeln aber nicht zum alles beherrschenden Thema
Belinda (Irina Potapenko) ist gerade im Begriff, mit ihrem deutschen Freund Manuel (Florian Lukas) zusammenzuziehen. Weitere Pläne für ihr Leben hat sie noch nicht. Ihr Studium dient ihr vor allem als Alibi, um sich aus der Umklammerung ihrer noch etwas traditioneller denkenden Familie zu lösen. Aus ist's mit dem unbeschwerten Dasein, als ihr Vater überraschend stirbt. Mehr und mehr wird Belinda wieder in den Kreis der Großfamilie zurückgezogen. Sie muss sich um den Antrag auf Hinterbliebenenrente kümmern und Verantwortung für ihre des Deutschen kaum mächtige Mutter Margrit (Berrin Alganer-Lenz) übernehmen. Zudem beginnt Belinda in der Änderungsschneiderei ihrer Tante Arsine (Günay Köse) zu jobben, die ihre Nichte offensiv zu verkuppeln versucht. Die Beschäftigung mit ihrer Familie und deren Vergangenheit belastet zunehmend Belindas Beziehung zu ihrem Freund, von dessen Existenz ihre Angehörigen nichts ahnen. Und sie führt dazu, dass die junge Frau sich fragt, wo sie eigentlich hingehört. Zusammen mit Arsine und ihrem Onkel Levon (Tilo Prückner) macht sie sich auf nach Armenien...
Die thematischen Ähnlichkeiten zwischen Samira Radsis Film und dem Überraschungshit „Almanya - Willkommen in Deutschland" sind unübersehbar. Auch in der Komödie um eine türkische Migrantenfamilie ging es nicht zuletzt um die Sehnsucht nach und das Gefühl von Heimat. Im Vergleich zu ihrer Regiekollegin Yasemin Samdereli schlägt Radsi dramatische Töne an, ohne jedoch auf ein wenig Humor zu verzichten. Dabei wirkt nicht jeder kleine Gag so gezwungen wie der Kurzauftritt von Peter Millowitsch als Beamter, der sich in breitem rheinischen Tonfall darüber auslässt, dass es seine aus Detmold stammende Gattin in der Kölner Fremde ja auch irgendwie schwer hat...
Stark, wenn auch nicht ganz klischeefrei, sind vor allem die Szenen, in denen Belinda im Kreis ihrer Familie gezeigt wird. Die zunehmende Unsicherheit darüber, wohin sie nun eigentlich gehört, nimmt man der eigentlich gut in Deutschland integrierten jungen Frau bereitwillig ab, zumal auch noch ihr Freund Manuel Anstalten macht, fernab von Köln ein Studium aufzunehmen. Dass ihre Selbstfindungsgeschichte dennoch nicht durchgehend zu fesseln vermag, liegt unter anderem daran, dass die Regisseurin ein paar Mal zu oft zwischen Belindas Familien- und ihrer Beziehungswelt hin- und herspringt und die Erzählung so kein echtes Zentrum erhält. Erst gegen Ende, in der armenischen Hauptstadt Jerewan, kommt der Film etwas zur Ruhe und erst dort entwickelt Belinda langsam eine klarere Vorstellung davon, was ihr Heimat bedeutet.
Nichts zu mäkeln gibt es an den schauspielerischen Leistungen. Irina Potapenko („Die kommenden Tage") steht Belindas Verunsicherung die meiste Zeit förmlich ins Gesicht geschrieben, während Florian Lukas („I Phone You") als Manuel, der für die Probleme seiner Freundin nur begrenzt Verständnis aufbringt, drehbuchkonform eine etwas unglückliche Figur macht. Günay Köse wiederum überzeugt als Arsine, die mit charismatischem Pragmatismus die Großfamilie dominiert. Und die Besetzung des deutschen Charaktermimen Tilo Prückner („Whisky mit Wodka") als verschmitzter Onkel Levon und damit demjenigen, der aus Belindas kompletter Verwandtschaft am schlechtesten auf die Türken zu sprechen ist, erscheint nur im Moment seines ersten Auftauchens etwas befremdlich.
Fazit: Das Regiedebüt von Samira Radsi offenbart zwar einige dramaturgische Schwächen, zeichnet sich andererseits aber auch durch die weitgehend ernsthafte und sensible Behandlung seines bereits im Titel anklingenden Themas der Heimatsuche aus.