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    Es geht um Luis
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Es geht um Luis

    Taxi statt Theaterbühne

    Von Mirco Leier

    Mobbing in der Schule ist ein Thema, bei dem oft mehrere subjektive Wahrnehmungen aufeinanderprallen, was dann auch schnell zur Relativierung oder gar Ignoranz führt: Der Mobbende sucht die Schuld beim Opfer, die Schule hält sich raus, und die Eltern würden gerne helfen, aber haben ja auch ihre eigenen Probleme, und so schlimm wird’s schon nicht sein. Die einzige Person, die wirklich weiß, was die alltägliche Schikane mit einem macht, ist die, die direkt darunter leidet. Aber gerade diese exkludiert Lucia Chiarla in ihrem zweiten Spielfilm nach „Reise nach Jerusalem“ fast vollständig: Der titelgebende Grundschüler kommt in der Theaterstück-Verfilmung „Es geht um Luis“ nämlich nur als Stimme am Telefon vor. Statt um seine persönliche Erfahrung geht es mehr um das, was die Nachricht des Mobbings mit seinem Umfeld macht – und zwar ganz besonders mit seinen Eltern.

    Connie (Natalia Rudziewicz) und Jens (Max Riemelt) haben viel um die Ohren. Sie verrichtet regelmäßig unbezahlte Überstunden in ihrem Job als Architektin, um sich die Chance auf eine Projektleiter-Steller zu wahren, während er kaum noch dazu kommt, sein Taxi auch nur für einen halben Tag stehenzulassen, seitdem die App-befeuerten Gig-Economy-Anbieter ihm das Geschäft kaputtmachen. Sogar nachts muss Jens neuerdings ran, das Geld ist knapp. Dennoch kriegen die beiden ihr Privatleben gemanagt, wirken zu Beginn des Films zwar gestresst, aber auch glücklich. Dass die Schule angerufen hat, um ein Problem mit ihrem Sohn Luis zu besprechen, ist da zunächst nur eine Fußnote, die Jens seiner Frau beim Aussteigen hinterherruft.

    Seit sie vom Mobbing ihres Sohnes erfahren haben, kriegen sich Connie (Natalia Rudziewicz) und Jens (Max Riemelt) zunehmend in die Haare. Across Nations
    Seit sie vom Mobbing ihres Sohnes erfahren haben, kriegen sich Connie (Natalia Rudziewicz) und Jens (Max Riemelt) zunehmend in die Haare.

    Im Laufe des Films entwickelt sich die vermeintliche Nichtigkeit um einen pinken Rucksack mit Einhorn-Bestickung jedoch mehr und mehr zu einem Elefanten, der bei jeder Taxifahrt des Familienvaters auf der Rückbank sitzt. Egal ob er von einer Transfrau angeflirtet wird, eine Gruppe betrunkener Mädels seinen Kotflügel vollkotzen oder er von einem Schulkind herablassend über die Sexualität seines Kindes ausgefragt wird: Jens kann den Fragen und Schuldgefühlen nicht entkommen, die das Mobbing seines Sohnes in ihm hervorruft. Schließlich überstrahlen die Vorfälle in der Schule auch die Beziehung zu Connie, Misstrauen, Eifersucht und Schuldgefühle dominieren fortan die Gespräche.

    Jens’ spoiler: Taxi ist dabei Dreh- und Angelpunkt des Films. Egal wie chaotisch die Handlung im weiteren Verlauf gerät, die Kamera entfernt sich nie mehr als ein paar Schritte von der eierschalenfarbenen Droschke. So verpasst Lucia Chiarla dem Theaterstück „The Little Pony“ von Paco Bezerra ihren eigenen Spin, denn genau wie das hat zwar auch die Verfilmung nur einen Handlungsort, aber dieser ist nun der durch Stuttgart fahrende Mercedes und nicht länger das Wohnzimmer der Familie.

    Im Taxi statt auf der Couch

    Zumindest auf dem Papier ist ein Taxi dynamischer als ein Wohnzimmer. Aber sonderlich geglückt ist die Verlegung dennoch nicht: Jens’ Taxi erweist sich als kalter, steriler Ort, der wenig Handlungsfreiheit zulässt. Die oft ohnehin nur mäßig geschriebenen, holzschnittartig zugespitzten Dialoge verlieren nochmals an Potenz, wenn man die spielenden Personen unentwegt in einen Metallkäfig quetscht, ihnen buchstäblich die Hände bindet. Man bekommt auch nach einem Dutzend gemeinsamer Fahrten kaum ein Gefühl dafür, wer Jens und Connie eigentlich sind. Man versteht, wofür sie einstehen, das macht der thesenhafte Film MEHR als deutlich – aber die menschliche Dimension fehlt. Auf der Theaterbühne fungierten noch waldgrüne Sofabezüge, Kinderkritzeleien an der Tür oder vor Wut in die Ecke gepfefferte Fernbedienungen als emotionale Bezugspunkte. In „Es geht um Luis“ gibt es stattdessen Facetime-Anrufe, Kreisverkehre und surrende Klimaanlagen. Ein Szenenbild, das riecht wie ein frisch geöffneter Wunderbaum.

    Im Verlauf des Films driften die Eltern mit ihrer Reaktion auf das Mobbing zunehmend auseinander: Connie wünscht sich einfach nur, ihr Sohn wäre „normal“, und erwägt den Gang zum Schulpsychologen, während Jens zunehmend einen Hass auf die untätige Schulleitung entwickelt, die die Schuld wiederum bei Luis selbst sieht. Er sei schließlich nicht bereit, sich anzupassen und würde selbst mit Gewalt auf das vermeintliche Mobbing reagieren, was ihm zwischenzeitlich sogar eine Suspendierung einbringt. Dieser Kontrast zwischen Überforderung, Mitgefühl und Ignoranz steckt einen Konfliktrahmenrahmen ab, den der Film allerdings nur selten realisieren kann.

    Der ganze Film spielt im und um das Taxi von Jens. Across Nations
    Der ganze Film spielt im und um das Taxi von Jens.

    Trotz der soliden Schauspielleistungen lässt sich eine gewisse Distanz zu den Hauptcharakteren nicht überwinden, auch weil die Regisseurin über weite Strecken versucht, verschiedene Positionen gegeneinander aufzuwiegen, anstatt klar Stellung zu beziehen. Darunter leidet auch die Auflösung der Geschichte, die sich rein auf ihre Drastik verlässt, um platt zu emotionalisieren und damit die vorherigen Streitpunkte mit einem Totschlagargument unter einen Hut bringen. Mobbing ist schlimm, steht dann unterm Strich, was als Erkenntnis nach 97 Minuten schon ein wenig mau ist. Die anfänglich gepflegte Subtilität wird dabei zunehmend gegen den Holzhammer ausgetauscht. Statt die Bilder zweier an der Balance zwischen Arbeit und Erziehung zerbrechender Menschen für sich sprechen zu lassen, muss Jens Mutter ausbuchstabieren, wieso der Kapitalismus an dieser ganzen Misere Schuld trägt.

    An einer anderen Stelle, als Jens ein verletztes Kind mit seinem Taxi ins Krankenhaus fährt, macht dieser sich über den im Kofferraum liegenden Rucksack von Luis lustig, aber bleibt dabei so politisch korrekt wie möglich und fragt wiederholt, ob er denn „LGBTQIA+“ sei. Kurz zuvor wirft Connie in einem Gespräch mit Jens ein, dass er doch gefälligst gendern solle. All diese Inhalte haben ein Recht, in diesem Film behandelt zu werden, aber es gelingt zu selten, all das in Dialoge zu übersetzen, die tatsächlich menschlich und nicht wie stichwortartig ausformulierte Thesen wirken.

    Fazit: Einen Film, der die Konsequenzen von Mobbing nicht auf das Opfer selbst, sondern auf sein Umfeld auszuleuchten versucht, klingt erst mal interessant. Doch „Es geht um Luis“ findet keinen emotionalen Zugang zu dem Thema. Die Inszenierung fällt zu steril aus, die Dialoge klingen oftmals konstruiert und thesenhaft.

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