Es schien, als würde Cannes 2012 gesittet über die Bühne gehen, so ganz ohne jeden kleineren oder größeren Skandal. Sicher, Lars von Trier war nicht da und echte Gaga-Pressekonferenzen waren von den Wettbewerbs-Kandidaten ohnehin nicht zu erwarten. Zwar gab es den ein oder anderen schwächeren Beitrag, etwa das ägyptische Revolutionsdrama „After the Battle" oder den banalen italienischen Medienzirkus „Reality". Echte Aufreger? Fehlanzeige. Und dann kam Carlos Reygadas („Battle In Heaven") des Weges und begab sich mit seinem provokanten Wettbewerbsbeitrag „Post Tenebras Lux" auf direkten Konfrontationskurs mit dem Festivalpublikum. Bereits mit seiner Entscheidung, den Film im längst überholten Bildformat 4:3 zu drehen und zu zeigen, hatte der Regisseur angedeutet, dass er keine Kompromisse machen würde. Auch der völlige Verzicht auf eine Handlung im konventionellen Sinne und die willkürlich scheinenden Schock-Szenen, die er immer wieder ohne dramaturgische Notwendigkeit einstreut, machen Reygadas' Drama zu einem kleinen Skandal, das in Cannes zur Massenflucht und zu lautstarken Buhrufen animierte, doch auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung auffordert. Leicht wird es hier keinem gemacht.
Juan (Adolfo Jiménez Castro) und Natalia (Nathalia Acevedo) beziehen ein kleines Häuschen in einem dünn besiedelten mexikanischen Landstrich. Das Paar hat zwei kleine Kinder, ist reich und gebildet. Zusammen mit anderen Großbürgern besucht man Partys, auf denen über Dostojewski und Tolstoi parliert wird. Die eheliche Langeweile vertreibt man sich in exklusiven Swinger-Clubs. Doch auch im vermeintlichen Paradies gibt es Ärger. In der Beziehung türmen sich die Krisen und immer wieder steht das Wort Trennung im Raum. Eine weitere Gefahr ist das prekäre Umland, in dem es von Süchtigen, Kriminellen, Armen und zu allem bereiten Driftern nur so wimmelt und wo es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die Frustration und Wut über die hoffnungslosen Lebensumstände gegen das dekadente Paar richten wird. Als Seven (Willebaldo Torres), ein armer Schlucker, der Juans Ländereien bewirtschaften soll, Gerätschaften von dessen Grund stiehlt, kommt es zur Konfrontation. Außerdem ist da noch ein rot leuchtender Teufel mit Ziegenkopf und Hörnern, der nachts durch das Haus streift...
Was sich zusammengefasst wie eine kohärente Geschichte liest, erzählt Carlos Reygadas stattdessen als Sequenz loser Eindrücke. Zuweilen wirkt der Film, als würden seine Szenen nebeneinander stehen und sich fragend anblicken. Die jeweiligen Verbindungen herzustellen, obliegt dem Publikum und Reygadas denkt nicht daran, wenigstens einen Teil der vielen Fragen zu beantworten, die er aufwirft. Wenn er Impressionen der mexikanischen Natur zeigt, will er dann einen Kontrast zur nur scheinbar geordneten Zivilisation schaffen oder doch vielmehr die urwüchsige Gewalt im Herzen jeder Gesellschaft versinnbildlichen? Das erinnert an Lars von Trier und seinen „Antichrist", in dem ebenfalls der Leibhaftige durch die Wälder schleicht. Hier jedoch findet der Beelzebub eine konkrete Verkörperung: Vor allem die Orgienszenen wecken Assoziationen in Richtung Satanismus, die durch gelegentliche Auftritte des Teufels ironisch untermauert werden.
Was wiederum die Gegenüberstellung von kindlicher Unschuld und chaotisch-indifferenter Welt angeht, liegt der Vergleich mit „The Tree of Life" nahe. Wo Terrence Malick sich jedoch auf pantheistische Spiritualität und die ätherische Schönheit der Schöpfung beruft, entwirft Reygadas ein Panoptikum der Trostlosigkeit, das er nur gelegentlich mit rabenschwarzem Humor durcheinanderwirbelt. Ganz und gar nicht witzig sind dann wieder die Szenen, in denen Juan seine Hunde misshandelt – und in denen angedeutet wird, dass er keinen allzu großen Unterschied zwischen Mensch und Tier macht. Obgleich es nicht explizit ausgeführt wird, ist schnell klar, dass Juan und seine Oberschicht radikalen Herrenmenschenphantasien verfallen sind. Schon mit seinem Auftakt, in dem die kleine Tochter mit wilden Hunden und freilaufenden Kühen herumtollt und dann von der Dämmerung und einem wunderschön gefilmten Gewitter überrascht wird, etabliert Carlos Reygadas eine Stimmung der ständigen Bedrohung, die den gesamten Film auszeichnet.
Die Art, wie in „Post Tenebras Lux" eine Atmosphäre latenter Beunruhigung geschaffen wird, weckt Erinnerungen an Bruno Dumonts „29 Palms", der ebenfalls mit monotoner Langsamkeit und erzählerischem Stillstand die Ruhe vor dem Sturm zur quälenden Ödnis werden ließ. Oder an Michael Hanekes „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls", der ähnlich episodisch ein Klima der sozialen Kälte konsequent bis zur Katastrophe nachzeichnete. Der Unterschied: Hier hat die Katastrophe weder erzählerisches, noch inszenatorisches Gewicht. Stattdessen verliert sich Reygadas anschließend erst recht in assoziativen Bildfolgen und Banalitäten. Was genau er damit ausdrücken will, bleibt vage. Zuweilen scheint er lediglich den größtmöglichen Schock, die größtmögliche Irritation im Sinn zu haben – auch visuell. So lässt Kameramann Alexis Zabe „Post Tenebras Lux" immer wieder aussehen, als sei er durch ein Kristall gefilmt, indem er seine Aufnahmen um den Bildmittelpunkt herum optisch brechen lässt.
Bedeutet all das vielleicht, dass sich das Elementare der Geschichte außerhalb des Blickfeldes – möglicherweise jenseits oder gar gleich vor der Leinwand – abspielt? Oder handelt es sich dabei um eine kalkulierte Provokation? Man meint, den Geist Jean-Luc Godards durch den Film wehen zu spüren: Schon 1967 warnte der Nouvelle-Vague-Vordenker in seinem Opus „Weekend" vor dem Ende des Kinos und dem Niedergang der Zivilisation in die Untiefen der Barbarei. Auch „Weekend" wurde seinerzeit missverstanden und gilt heute als wütendes Fanal. Reygadas' Konfrontationslust ist mit „Post Tenebras Lux" unmissverständlich dokumentiert. Wie sich ein so außergewöhnlicher Film halten wird, wie lange er im Gespräch bleiben wird, das kann nur die Zeit zeigen. Die Verwirrung, die Reygadas in Cannes gestiftet hat, deutet darauf hin, dass „Post Tenebras Lux" in Zukunft klar aus dem Cannes-Wettbewerb 2012 hervorstechen wird – für alle Arthouse-Freunde ist der komplizierte Film damit praktisch Pflichtprogramm.
Fazit: Beißend böse Zivilisationskritik oder Skandalfilmchen aus dem Baukasten? „Post Tenebras Lux" muss interpretiert werden. Wer sich die Mühe macht, den erwartet womöglich „nach Finsternis Licht" - ganz wie es der Titel nahelegt. Eine nervenaufreibende Erfahrung ist der Film in jedem Fall.