Die Regisseure der sogenannten Berliner Schule haben sich zu einem großen Teil längst von den nüchtern-unaufgeregten Alltagsbeschreibungen entfernt, die mit dem Etikett meist assoziiert werden. Auf der Berlinale 2010 waren mit Benjamin Heisenbergs „Der Räuber" und Thomas Arslans „Im Schatten" echte Genrestoffe zu sehen, die trotzdem klar die Handschrift der beidem prominenten Filmemacher trugen. Dann wagte sich Christoph Hochhäusler mit dem in der Nebenreihe Un Certain Regard von Cannes präsentierten „Unter dir die Stadt" in die Finanzwelt hinein. Mit „Schlafkrankheit" spannt Ulrich Köhler den Bogen noch weiter: Sein Wettbewerbsbeitrag bei der Berlinale 2011 spielt in Afrika und trotzdem ist der Stil des Regisseurs zumindest in der ersten Hälfte des Dramas unverkennbar. Es ist kein Film über Afrika direkt, sondern seine Themen sind Entfremdung und Einsamkeit. Da werden sich nicht nur die Fans der Berliner Schule wiederfinden, sondern auch jene von Claire Denis („White Material") und Apichatpong Weerasethakul („Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben"), an dessen „Tropical Malady" Köhlers neuestes Werk ein ums andere Mal erinnert - transzendentales Finale inklusive.
Ebbo Velten (Pierre Bokma, „Interview") arbeitet als Arzt in Kamerun und bekämpft dort die Schlafkrankheit. Doch seine Frau Vera (Jenny Schily, „Der Letzte macht das Licht aus!"), bislang treu an seiner Seite, zieht es zurück nach Deutschland, wo die Tochter Helen (Maria Elise Miller) das Internat besucht. Gemeinsam ringt sich das Ehepaar zu dem Entschluss durch, heimzukehren; ein Nachfolger für Ebbo steht mit Elia Todorov (Sava Lovov) schon bereit und auch ein Vorschlag des vermögenden Lebemanns Gaspard Signac (Hippolyte Girardot, „Lady Chatterley") zu einer Projektpartnerschaft scheint den Rückkehrwilligen nicht mehr von seinem Beschluss abbringen zu können. Während seine Frau schon einmal vorausfliegt, will Ebbo nur noch die allerletzten Details klären...
...Jahre später: Alex Nzila (Jean-Christophe Folly, „35 Rum"), Pariser Arzt kongolesischer Abstammung, hat es satt, Afrika-Touristen über Malaria-Gefahren aufzuklären. Er schließt sich der Weltgesundheitsorganisation WHO an, für die er ein Projekt zur Behandlung der Schlafkrankheit im kamerunischen Dschungel evaluieren soll. In der Klinik findet er allerdings kaum Patienten, sondern nur noch die hochschwangere, junge afrikanische Frau des leitenden Arztes Dr. Ebbo Velten...
Die ersten beiden Langfilme von Ulrich Köhler, „Bungalow" (lief auf der Berlinale 2002 in der Reihe Panorama) und „Montag kommen die Fenster" (Berlinale Forum 2006) spielten in der hessischen Provinz, wo der Regisseur selber aufwuchs. Während der Filmemacher sich im meisterhaften „Bungalow" eines orientierungslosen, aus der Bundeswehr fliehenden Jugendlichen annahm, kletterte er mit „Montag kommen die Fenster" eine Altersklasse nach oben und zeigte ein Paar Anfang dreißig, bei dem sich bei der Einrichtung eines neuen Eigenheims die Brüche in der Beziehung offenbaren. Mit „Schlafkrankheit" geht es nun von Hessen nach Afrika, aber trotz dieses radikalen Schauplatzwechsels gibt Köhler die biographischen Bezüge nicht auf, denn seine Eltern waren Entwicklungshelfer und er verbrachte daher mehrere Jugendjahre auf dem afrikanischen Kontinent. Diese Erfahrung ist Köhlers genauem Blick auf seine europäischen Figuren in Kamerun stets anzumerken.
Die erste Phase des zweigeteilten Films erinnert an Köhlers vorangegangenes Beziehungsdrama. Erneut blickt der Regisseur auf eine von inneren Rissen durchsetzte Beziehung, deren Harmonie nur äußerlich ist – hierin ist „Schlafkrankheit" fast so etwas wie der perfekte Inbegriff des Kinos der Berliner Schule. Ähnlich wie in Weerasethakuls „Tropical Malady" gibt es aber dann einen deutlichen Bruch und eineehn klaren Stilwechsel. Eingeleitet von einem Vortrag, in dem der Entwicklungshilfe jeglicher Nutzen abgesprochen wird, wechselt Köhler von einem eher nüchternen zu einem deutlich symbolhafteren Erzählgestus. Der neu eingeführte Arzt Alex Nzila ist dabei die Schlüsselfigur. Voller Ideale reist er auf den Kontinent seiner Vorfahren, um schnell ernüchtert und hilflos zu werden. Köhler enthält sich dabei jeden Kommentars zum Thema Entwicklungshilfe und bildet einfach die Zustände ab. Genauso ratlos wie Nzila am Ende zurückbleibt, gibt sich der Filmemacher selbst und trifft damit ins Schwarze. Diese Einsicht mag unpopulär und unbequem sein, aber Köhler verdeutlicht überzeugend, dass es keine einfachen Antworten gibt, wenn es um das Für und Wider von finanzieller Unterstützung für den ärmsten Kontinent geht.
Ulrich Köhler geht es daher weniger darum, die geopolitische Problematik weiter zu vertiefen, als von seinen Figuren zu erzählen, die auf die unterschiedlichste Art entfremdet sind. Nzila ist fremd in der Stadt, in der er geboren wurde, die aber nie seine Heimat wurde. Diese findet er nun auch nicht auf dem Kontinent seiner Vorfahren. Velten wiederum bleibt immer der Europäer, so tief er sich auch im afrikanischen Dschungel vergräbt und obwohl er durch seine neue Frau Mitglied einer einheimischen Familie wird. Köhlers Inszenierung spiegelt dies auf klare Weise wider, mehrfach setzt er etwa das Motiv von durch die Nacht irrenden Menschen ein. Nur ihre Taschenlampen oder Autoscheinwerfer erhellen Teile der Kinoleinwand. Der Regisseur treibt dies auf die Spitze, wenn Nzila gegen Ende orientierungslos in der Nacht steht und in der Ferne nicht die vertraute Stimme Veltens hört, sondern ein Nilpferd.
Köhler widersetzt sich jeder einfachen Erklärung und verzichtet konsequent auf romantisierte Afrika-Bilder. „Schlafkrankheit" ist in diesem Sinne durchaus ein sperriges Werk und so gab es im Anschluss an die Pressevorführung auf der 61. Berlinale nicht nur Applaus, sondern auch viele Buhrufe. Dies ist eine weitere Gemeinsamkeit mit „Tropical Malady", der 2004 in Cannes von Teilen der Presse mit Schmähungen bedacht wurde. Später gewann der Film den „Großen Preis der Jury", eine Auszeichnung, die auch „Schlafkrankheit" vollauf verdient hätte.